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Nach dem Aus für Jamaika Jamaika-Sondierungen gescheitert: Die Wirtschaft wird zur Festung im politischen Chaos

Von Markus Sievers 20.11.2017, 10:58
Deutschland ist nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche in einer Phase politischer Ungewissheit.
Deutschland ist nach dem Scheitern der Jamaika-Gespräche in einer Phase politischer Ungewissheit. dpa

Berlin - Deutschland in politischer Unsicherheit – das ist neu für die Wirtschaft. Wirkliche Sorgen muss sich in den Unternehmen aber niemand machen. Die Konjunktur läuft auch ohne stabile Regierung. Schwierig wird es für Europa und die Reformen in der Euro-Zone.

Wie nehmen die Wirtschaftsvertreter die Nachrichten aus Berlin aus?

Sie schäumen und sie warnen. Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer nennt das Scheitern der Gespräche „fatal“. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHT) prognostiziert eine „längere Phase der Unsicherheit“. Es bestehe die Gefahr, dass wichtige Reformen auf absehbare Zeit ausblieben, erklärte DIHT-Chef Eric Schweitzer. „Für die deutsche Wirtschaft ist das Scheitern der Sondierungsgespräche eine Enttäuschung.“ Von einer verpassten Chance spricht Bankenpräsident Hans-Walter Peters.

Droht nach dem politischen das wirtschaftliche Chaos?

Eindeutig: Nein. Die deutsche Volkswirtschaft läuft rund mit Wachstumsraten von zwei Prozent und mehr. Die Arbeitslosigkeit ist auf den tiefsten Stand seit Jahrzehnten gefallen. Daran wird sich nichts ändern, nur weil in Berlin eine geschäftsführende Regierung verwaltet. Auch eine Jamaika-Koalition mit den tief zerstrittenen Parteien hätte ja kein Reformwerk gezündet.

Das braucht die deutsche Ökonomie kurzfristig auch gar nicht. Ihr würden mittel- bis langfristig höhere Investitionen, eine bessere Bildung und andere politische Weichenstellungen gut tun. Eine Steuerentlastung wünscht sie sich. Aber dringender Handlungsbedarf besteht aus Sicht der Unternehmen nicht. Viele sind zufrieden, wenn sie von der Politik in Ruhe gelassen und nicht behindert werden.

Wie reagieren die Finanzmärkte?

Überwiegend gelassen. In einer ersten Reaktion fiel der Euro-Kurs noch in der Nacht von Sonntag auf Montag im asiatischen Handel um ein halbes Prozent auf 1,1722 Dollar. Anschließend und als die deutschen und europäischen  Finanzplätze eröffneten, erholte er sich aber wieder.

Der Deutsche Aktienindex startete mit einem Minus von einem halben Prozent in den Handel, machte die Einbußen im Laufe des Vormittages aber fast vollständig wieder wett. Auch an den Rentenmärkten war keine Spur von einer Flucht in Sicherheit, wie sie bei Krisen von ökonomischer Relevanz zu beobachten ist. Die in heiklen Phasen als rettender Hafen geschätzten Bundesanleihen legten nur leicht zu.

Aber gilt nicht der alte Spruch, dass Unsicherheit Gift ist für die Wirtschaft?

Doch. An diesen Grundsatz erinnert auch Jörg Krämer, Chef-Volkswirt der Commerzbank. Zugleich hebt er hervor: „Aber das Scheitern der Jamaika-Verhandlungen kann für die Unternehmen kein Schock sein – nachdem sich die kontroversen Verhandlungen unter den Augen der Öffentlichkeit quälende vier Wochen hinzogen“. Die deutsche Wirtschaft werde noch immer von den Agenda-Reformen der Schröder-Regierung getragen, so Krämer. Zudem fache die lockere Geldpolitik der Europäischen Zentralbank die Nachfrage an. Daher sei die Wirtschaft robust genug, um diese Ungewissheit zu verkraften.

Sind sich die Experten einig?

Weitgehend. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, betont zwar, dass Deutschland eine handlungsfähige Regierung brauche. Doch er hält es für möglich, dass die Jamaika-Parteien in einem zweiten Anlauf zu einem Ergebnis kommen. Ifo-Chef Clemens Fuest stellt sich auf eine Minderheitsregierung ein, da nach seiner Einschätzung Neuwahlen kaum veränderte Mehrheiten brächten.

Eine Minderheitsregierung  bringe Chancen und Risiken mit sich. Die größte Gefahr liege in der wachsenden Unsicherheit über die deutsche Wirtschaftspolitik, findet Fuest. „Die Chance besteht darin, dass die Rolle des Parlaments gestärkt wird und über einzelne politische Entscheidungen ausführlicher und offener diskutiert wird.“ Mit Minderheitsregierungen hätten die skandinavischen Länder und Kanada mehrfach gute Erfahrungen gemacht.

Also, aus wirtschaftlicher Sicht alles halb so wild?

Nicht ganz. Einen möglicherweise größeren Rückschlag bedeutet das politische Chaos in Berlin für die Bemühungen, die Euro-Zone zu stabilisieren und voranzubringen. Frankreichs Präsident Emanuel Macron ist mit viel Elan und vielen Reformideen gestartet. Ohne eine handlungsfähige Bundesregierung kann er nichts bewegen. „Das ist sehr bedauerlich“, lautet der Kommentar von Holger Schmieding, Volkswirt der Bank Berenberg.

Allerdings könne die EU auch so kooperieren und Fortschritte auf einzelnen Gebieten erzielen. Ihren für Dezember geplanten Gipfel könne die Europäische Union gleich absagen, meint dagegen Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der Bank ING. Sollte sich die Selbstblockade in Berlin fortsetzen, sieht er auch einen schwindenden Einfluss der Bundesregierung in Europa. „Deutschland ist nicht länger das Vorbild politischer Stabilität.“

Und was sagt der Internationale Währungsfonds (IWF)?

IWF-Präsidentin Christine Lagarde verbreitete am Sonntagabend eine Einschätzung, die hierzulande für Erstaunen sorgen dürfte. „Jamaika ist ein Vorbild für andere Länder, was politische Verantwortung betrifft“, erklärte Lagarde. Die Französin äußerte sich allerdings nicht in Berlin, sondern in der jamaikanischen Hauptstadt Kingston. Ihre warmen Worte galten daher dem Inselstaat der Karibik.