Erste Chemiefabrik Deutschlands Erste Chemiefabrik Deutschlands: Neues Schirm-Werk in Schönebeck auf historischem Boden

Schönebeck - Blank polierte Edelstahlrohre durchziehen die neue Synthese-Anlage des Chemie-Unternehmens Schirm. Betriebsleiterin Frauke Richter geht an meterhohen Kolonnen und Kessel vorüber. „Bis zu sieben Verarbeitungsstufen werden hier vorgenommen, bis das Endprodukt entsteht“, sagt die Chemikerin.
Produziert werden in dem 20 Millionen Euro teuren Werks-teil, der am Freitag mit Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) eingeweiht wurde, künftig Produkte für die Automobil- und Kunststoffindustrie sowie für die Landwirtschaft. Schirm hat sich in der Chemiebranche einen guten Ruf erarbeitet, in der Öffentlichkeit ist das Unternehmen aus Schönebeck allerdings kaum bekannt.
Wiege der industriellen Chemie liegt in Schönebeck
Das überrascht zunächst. Schließlich handelt es sich um den Nachfolger der wohl ersten deutschen Chemiefabrik. Nicht im Rheinland und auch nicht im mitteldeutschen Chemiedreieck, sondern an der Elbe bei Magdeburg liegt die Wiege der industriellen Chemie.
Der Apotheker Carl Samuel Leberecht Hermann untersuchte Ende des 18. Jahrhunderts die Salz-Abfälle der königlichen Saline zu Schönebeck, um daraus chemische Produkte herzustellen. 1794 gründete er die Firma Hermania.
Ersten Produkte aus Schönebeck waren Abführmittel, Geschmacksverstärker und Dünger
Die ersten Produkte: Glaubersalz als Abführmittel, Magnesiumchlorid als Geschmacksverstärker, Dornstein als Dünger. Drei Jahre später lief die Produktion auf der Saline-Insel an, das Werk firmierte als königlich preußische Fabrik.
Carl Samuel Leberecht Hermann wurde am 20. Januar 1765 in Königerode (Harz) geboren. Nach einer pharmazeutischen Ausbildung in Halberstadt eröffnete er 1792 in Groß Salze bei Magdeburg eine Apotheke.
Hermann war nicht der erste, der verschiedene Salzprodukte zur Heilung von Krankheiten nutzte, doch stellte er sie erstmals großtechnisch her.
Er führte als erster in Deutschland das Leblanc-Verfahren zur Herstellung von Soda ein. 1871 entdeckte Hermann fast gleichzeitig mit dem deutschen Chemiker Friedrich Stromeyer das Element Cadmium. Auch wirtschaftlich zahlten sich seine Erfindungen aus.
Bis Ende des 19. Jahrhunderts war Hermania eines der größten deutschen Chemieunternehmen, das mehr als 50 Produkte herstellte. Hermann starb am 1. September 1846.
Hermann war ein Pionier, der ungewöhnliche Wege ging. In Schönebeck ließ er den Urin der Einwohner einsammeln, um Harnstoffprodukte herzustellen. 1806 gelang ihm die industrielle Herstellung von Soda, es wurde für lange Zeit das Spitzenprodukt der Fabrik.
Carl Herrmann: Schirm ist stolz auf den Gründer der ersten Chemiefabrik Deutschlands
Es wird für die Glasproduktion, die Waschmittelindustrie oder zur Wasseraufbereitung genutzt. Noch heute stellen zwei große Chemie-Werke in der Region, in Staßfurt und Bernburg (beide Salzlandkreis), den wichtigen chemischen Grundstoff her.
Die Schirm-Mitarbeiter sind stolz auf den Gründer. Im heutigen Verwaltungsgebäude schaut er streng von einem Bild. „Bei der Weltausstellung 1851 in London wurde die Fabrik erstmals ausgezeichnet“, sagt Chemikerin Richter. Es folgen Weltausstellungen in Paris und New York.
Alteste Chemiefabrik Deutschlands in Schönebeck: Bis 1877 in Familienbesitz
Bis 1877 bleibt das Unternehmen in der Hand der Familie, dann wird es in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Die Produkte wechselten im Laufe der Zeit, und Mitte der 1920er Jahre musste auch Konkurs angemeldet werden. Doch die Nachfolgefirmen waren mit Farben, Düngemitteln und Stoffen etwa für die Fliesenherstellung wieder erfolgreich.
„Es ist den Fachkräften in der Region zu verdanken, dass die Industrietradition nie abgerissen ist“, sagt Schirm-Geschäftsführer Dirk Unterstenhöfer. Noch heute werden in Schönebeck auch Düngemittel hergestellt. Dass dies kaum bekannt ist, liegt vor allem am Geschäftskonzept. Schirm stellt keine eigenen Markenprodukte her, sondern produziert ausschließlich für andere Chemie-Unternehmen.
Schirm in Schönebeck: Welche Produkte das Chemieunternehmen herstellt
So werden unter anderem Zwischenprodukte für die Automobil- und Baustoffindustrie hergestellt. „Dass neue Autos so schön glänzen, liegt auch an unseren Produkten“, sagt Unterstenhöfer. Namen von Kunden nennt er nicht. Schirm produziert mitunter für Firmen, die zueinander im Wettbewerb stehen. „Vertraulichkeit und Geheimhaltung von Rezepturen ist für unsere Kunden besonders wichtig“, erklärt der Firmenchef.
In Schönebeck werden zwar keine eigenen Produkte mehr entwickelt, dafür aber komplizierte Molekülketten hergestellt. Das Labor-Gebäude ist vollgepackt mit Analysetechnik. „Wir kontrollieren nicht nur unsere Endprodukte, sondern auch jeden angelieferten Rohstoff“, erläutert Richter.
Schirm in Schönebeck: Drei Syntheseanlagen sind das Herzstück des Chemieunternehmens
Herzstück des 15 Hektar großen Areals sind die drei Syntheseanlagen. In diesen werden aus einzelnen Elementen Verbindungen oder einfache Verbindungen zu komplexen zusammengebaut. Die Technologie sicherte nach der Wende auch den Fortbestand. In der DDR produzierten am Standort 600 Mitarbeiter Düngemittel für ganz Osteuropa.
Doch die Zulassungen für die Produkte gingen über Nacht verloren, die Zahl der Beschäftigten sank bis auf 70. Die in Lübeck gegründete Firma Schirm übernahm den Standort, weil das Unternehmen bis dahin keine eigene Syntheseanlagen besaß. Schirm brachte die Kunden mit.
260 Menschen arbeiten bei Chemieunternehmen Schirm in Schönebeck
Inzwischen ist Schönebeck mit 260 Mitarbeitern der größte von fünf Standorten der Gruppe und Firmensitz. Seit 2012 wurden allein 80 neue Stellen geschaffen. „Ausreichend Fachkräfte zu finden, ist aktuell unsere drängendste Aufgabe“, sagt der Firmenchef. Der Arbeitsmarkt für Chemikanten sei wie leergefegt.
„Wir bilden mehr aus, können unseren Bedarf damit aber nicht voll decken“, sagt Unterstenhöfer. Man gehe nun verstärkt in Schulen und Hochschulen, um junge Menschen zu erreichen.
Chemieunternehmen Schirm in Schönebeck rechnet mit mehr Aufträgen
Der Firmenchef rechnet künftig mit mehr Aufträgen. Nach seinen Worten werden in China die Auflagen für die Abfallentsorgung strenger, um die massive Umweltzerstörung zu beenden. „Für uns bedeutet das, der Wettbewerb wird fairer.“
Auch wegen fehlender Umweltauflagen kann bisher in Asien günstiger produziert werden. „Die Branche erwartet nun, dass ausgelagerte Produkte nach Europa zurückkommen.“ Schirm, Tochterfirma der südafrikanischen AECI-Gruppe, setzt auf die Produktion in Deutschland.
Die von Unternehmer und Gründer Hermann vor mehr als 200 Jahren eingeführte Chemieproduktion in Schönebeck will das Unternehmen erfolgreich fortführen. (mz)