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Cannabis-Report Cannabis-Report: Wissenschaftler und Kasse warnen vor zu hohen Erwartungen

Von Timot Szent-Ivanyi 17.05.2018, 12:42
Eine Dose Bedrocan (medizinische Hanf-Blüten)
Eine Dose Bedrocan (medizinische Hanf-Blüten) dpa

Berlin - Als vor gut einem Jahr das unscheinbar klingende „Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher Vorschriften“ in Kraft trat, schöpften viele Menschen mit chronischen Schmerzen und andere „austherapierte“ Patienten neue Hoffnung: Seit März 2017 dürfen Ärzte Schwerstkranken Cannabis auf Kosten der Krankenkassen verschreiben. Mittlerweile nutzen bereits knapp 10.000 Versicherte diese neue Möglichkeit. Wem Cannabis aber tatsächlich hilft, ist weiterhin nur unzureichend geklärt. Denn nach wie vor ist die Studienlage dürftig. In dem am Donnerstag erstmals vorgestellten „Cannabisreport“ im Auftrag der Techniker Krankenkasse warnen Wissenschaftler aber vor zu hohen Erwartungen. Zusammen mit der Kasse und Medizinern fordern sie, Cannabis wie andere neue Medikamente einer umfangreichen wissenschaftlichen Prüfung zu unterziehen.

Studien häufig nicht aussagekräftig

„Cannabis ist kein pflanzliches Wundermittel“, so das Fazit des Pharmakologen Gerd Glaeske von der Universität Bremen, der den Report erstellt hat. Er hat dafür keine eigenen wissenschaftlichen Studien durchgeführt, sondern bereits vorliegende Untersuchungen zusammen gefasst und ausgewertet. Dabei stellte er fest, dass es kaum wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse über den medizinischen Nutzen von Cannabis gibt. Die Studien seien häufig nicht aussagekräftig, weil es beispielsweise zu wenig Teilnehmer oder keine Vergleichsgruppen gab. „Es überwiegen in vielen Bereichen am ehesten positive Patientenberichte, die nicht unbedingt als belastbarer Kenntnisstand gewertet werden können“, so der Experte.

Glaeske kommt nach der Auswertung der Untersuchungen aber zumindest zu dem Schluss, dass Cannabis bei chronischen Schmerzen, bei Epilepsien und bei Multipler Sklerose helfen kann. Als geeignet erscheint ihm das Mittel auch zur Steigerung des Appetits bei Aids-Kranken und gegen die bei Chemotherapien auftretende Übelkeit. Für „möglich“ hält es der Experte, dass Cannabis bei Angst- und Schlafstörungen, bei der Aufmerksamkeitsstörung ADHS sowie beim Tourette-Syndrom erfolgreich eingesetzt werden kann. Keine Wirksamkeit attestiert der Pharmakologe bei Depressionen, Psychosen, Demenz oder bei Darmerkrankungen.

 „Viele schwerkranke Menschen erwaten Wunder“

Unklar sei aber nach wie vor, welchen Patientengruppen Cannabis in welcher Dosis helfe und in welcher Form es am besten verabreicht werden solle, mahnte Glaeske. Das bestätigte auch der Mediziner Michael Schäfer von der Berliner Charite. Mit Cannabis betrete man Neuland, erklärte er. „Viele Patienten kommen zu mir, weil sie über medizinisches Cannabis gelesen haben und erwarten nahezu Wunder“, berichtete der Mediziner: „Das sind wirklich schwerkranke Menschen, die sich an jeden Strohhalm klammern.“ Dann sei es häufig nicht ganz leicht, ihnen erst einmal Alternativen anzubieten, mit denen man bereits bessere oder überhaupt Erfahrungen habe.

Beide verwiesen zudem auf die Nebenwirkungen von Cannabis, wie Denkstörungen, Schwindel oder erhöhter Blutdruck. Nach längerer Einnahme größerer Mengen könne es auch zur psychischen Abhängigkeit kommen, warnte Glaeske. Zusammen mit Kassenchef Jens Baas forderten die Experten wissenschaftlich fundierte Begleitstudien, damit ähnlich wie bei neuen Medikamenten der tatsächlich Mehrwert für die Patienten gegenüber herkömmlichen Therapie bestimmt werden kann.

Patienten benötigen Ausnahmegenehmigung

Bis zum Inkrafttreten des neuen Gesetzes benötigten Patienten eine Ausnahmegenehmigung, um Medizinalhanf in der Apotheke zu bekommen – auf eigene Kosten. Nur etwa 1000 Schwerstkranken gelang es, eine derartige Genehmigung zu erhalten. Erst nachdem Patienten vor dem Bundesverwaltungsgericht durchsetzten, Cannabis auch selbst anbauen zu dürfen, reagierte die große Koalition: Durch die Neuregelung dürfen Cannabisblüten oder flüssige Blütenextrakte von jedem Arzt verschrieben werden, wenn alle übrigen Behandlungswege ausgeschöpft wurden. Die Verschreibung muss dann von der Kasse genehmigt werden, die die Entscheidung in der Regel dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) überlässt.

Bundesweit gab es bisher bei allen Kassen rund 16.000 Anträge für eine Behandlung mit Cannabis, 10.000 davon wurden laut Glaeske genehmigt. Die Techniker Kasse gab 2017 rund 2,3 Millionen Euro für Cannabis-Mittel aus. Das sei verglichen mit anderen neue Medikamenten „nicht außergewöhnlich hoch“, betonte Baas. Er verwies auf die gesamten Arzneimittelausgaben der Kasse in Höhe von über vier Milliarden Euro. Er begrüßte es ausdrücklich, schwerkranken Versicherten eine weitere Therapiealternative anbieten zu können.

Baas mahnte in diesem Zusammenhang aber auch, die Kosten nicht aus dem Blick zu verlieren. Er plädierte dafür, statt der Cannabisblüten besser cannabinoidhaltige Präparate in Form von Tropfen oder Kapseln zu verschreiben. Eine Versorgung mit Blüten sei 400 Prozent teurer als die mit dem entsprechenden Präparat Dronabinol, sagte er. Glaeske plädierte noch aus einem anderen Grund für Tropfen: Hier schwanke der Wirkstoffgehalt nicht so stark und sie seien leichter zu dosieren. Glaeske: „Die Therapie mit Blüten mutet fast an wie ein Rückfall ins Mittelalter.“