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Arbeitskampf um einen Cent Amazon Leipzig: Arbeitskampf um einen Cent - Seit fünf Jahren streiten Verdi und Amazon um einen Tarifvertrag

Von Steffen Höhne 27.05.2018, 10:00
Ein wiederkehrendes Bild: Alle paar Wochen  streiken Mitarbeiter in Leipzig vor dem Versandzentrum.  
Ein wiederkehrendes Bild: Alle paar Wochen  streiken Mitarbeiter in Leipzig vor dem Versandzentrum.   dpa

Leipzig - Vor Beginn der Schicht erscheint auf dem Scanner von Frank L. immer eine Frage. Die lautet dann beispielsweise: „Geht Dein Manager respektvoll mit Dir um?“ Der Mitarbeiter des Amazon-Versandzentrums in Leipzig antwortet: nein.

Seit mehreren Jahren arbeitet er als sogenannter Picker (zu deutsch „Pflücker“) in dem 17 Fußballfelder großen Lager. Seine Aufgabe ist es, die bestellten Waren aus den kilometerlangen Regalen zu holen. Aus Sorge um seinen Job will er seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. Doch er will - aus seiner Sicht - über Missstände sprechen und warum er die Streiks der Gewerkschaft Verdi unterstützt. Ihm und vielen anderen Mitarbeitern geht es weit mehr als nur um mehr Lohn. Es geht um Arbeitsbedingungen, Verlagerung von Aufträgen und der Angst, irgendwann von Robotern ersetzt zu werden.

Im Mai 2013 rief die Gewerkschaft erstmals Mitarbeiter an den Standorten Bad Hersfeld (Hessen) und Leipzig zum Arbeitskampf auf. Das Ziel: Verhandlungen über einen Tarifvertrag im Versandhandel mit Amazon aufzunehmen. Fünf Jahre und unzählige Streiks an mehreren Standorten später hat sich der Online-Riese noch nicht bewegt. Doch es ist kein Kampf von David gegen Goliath, sondern eher ein Wettrennen von Hase und Igel.

Als die Gewerkschaft in Leipzig erstmals zum Streik aufrief, hatte das Versandzentrum rund 1 200 Mitarbeiter. „Jeder neue Mitarbeiter hat eine zweijährige Probezeit, in der er nicht streiken wird“, sagt Verdi-Fachsekretär Thomas Schneider. Die Gewerkschaft gewann nach eigenen Angaben schnell Mitglieder, doch Amazon stellte noch schneller ein. Heute sind es in Leipzig 2.000 feste Mitarbeiter - etwa 400 davon beteiligen sich regelmäßig an Streikaktionen. Es werden nicht weniger, aber jetzt auch nicht mehr.

Amazon zahlt über Tarif

Amazon-Mitarbeiter Frank spricht von einem rauen Betriebsklima, das von Misstrauen geprägt ist. „Wenn ich beim Gang durch die Regale stehen bleibe, mich mit einem Kollegen kurz unterhalte, dann wird das von meinem Handscanner erfasst“, schildert er seinen Berufsalltag. Am Ende der Schicht werde das vom zuständigen Manager ausgewertet. „Häufig gibt es dann eine Gesprächsnotiz oder eine Abmahnung wird angedroht.“

Amazon wurde 1994 von dem Informatiker Jeff Bezos gegründet und verkaufte als eines der ersten Unternehmen weltweit Bücher über das Internet. Das Produktsortiment wurde von Jahr zu Jahr ausgeweitet. 

Heute ist der US-Konzern mit einem Jahresumsatz von 136 Milliarden US-Dollar einer der größten Online-Händler weltweit. Das Unternehmen ist jedoch auch führend in IT-Dienstleistungen wie Cloud-Anwendungen. Das macht Amazon zu einem der wertvollsten Börsen-Unternehmen der Welt. 

In Deutschland stieg der Umsatz 2017 um 17,4 Prozent auf rund 15 Milliarden Euro. Derzeit betreibt der Konzern im Bundesgebiet elf große Logistikzentren (siehe Grafik) mit 12.000 festen Mitarbeitern. (mz)

Gleiches gelte, sollte jemand schon vor dem Pausenklingeln auf dem Weg in die Kantine sein. „Ständig wird die Produktivität der Mitarbeiter ausgewertet“, sagt Frank. „Wenn jemand häufiger krank ist, dann wird der Druck durch die Vorgesetzten noch erhöht.“ Das sei die Kehrseite der stets pünktlichen Pakete für die Kunden. Amazon teilt dagegen mit: „Es gibt keine Überwachung von Mitarbeitern durch Vorgesetzte“. Führungskräfte würden Mitarbeiter „fördern und coachen“.

Was Frank bei Amazon hält, „sind die Kollegen und das Geld“. Das Geld? Amazon zahlt Lagerarbeitern, die zwei Jahre im Betrieb sind, ein Grundlohn von 12,22 Euro pro Stunde. Der Basislohn liegt nur einen Cent unter dem von Verdi geforderten Tariflohn. Darüber hinaus biete Amazon leistungsbezogene Prämien, Weihnachtszahlungen und Mitarbeiter-Aktien, sagt ein Amazon-Sprecher. Mit den Extras verdiene ein Mitarbeiter nach zwei Jahren im Schnitt 2 621 Euro im Monat. Doch wenn schon heute über Tarif gezahlt wird, warum lehnt es Amazon ab, einen Tarifvertrag abzuschließen? „Wir sind davon überzeugt, dass direkte Kommunikation und die Zusammenarbeit mit den Betriebsräten der Standorte der effektivste Weg ist, die Belange der Belegschaft zu verstehen und auf sie zu reagieren“, so der Amazon-Sprecher.

Picker Frank erzählt, es gebe für die Beschäftigten eine „Ethik-Hotline“. „Dort kann man anrufen, wenn man Probleme mit seinem Chef hat.“ Doch das lande dann wieder auf der „Teppich-Etage“. So nennen die Mitarbeiter im Lager die Management-Flure in Leipzig.

Obwohl Amazon in Deutschland ein Versandzentrum nach dem anderen aus dem Boden stampft, gelang es Verdi zeitweise an sieben Standorten gleichzeitig zu streiken. Die Lieferpünktlichkeit wurde dennoch kaum beeinträchtigt. „Amazon hat einen Computer-Algorithmus für die Logistik entwickelt, der auf die Streiks sofort reagiert“, erläutert Gewerkschafter Schneider. Sei ein Versandzentrum gestört, liefere eines der 40 anderen in Europa die Waren. Seit 2013 entstanden drei Lager in Polen und zwei in Tschechien, die fast ausschließlich nach Deutschland liefern, so die Gewerkschaft. Laut polnischen Medien verdienen die dortigen Lagerarbeiter vier Euro die Stunde.

Roboter halten Einzug

Das hat offenbar auch Folgen für Leipzig. Das 2006 eingeweihte Lager war zwischenzeitlich das produktivste weltweit. In diesem Frühjahr herrscht nach Aussagen von Mitarbeitern und Gewerkschaft jedoch eine Auftragsflaute. „Wir wurden vom Management angehalten, Urlaub zu nehmen“, sagt Frank. Zudem sollen „wir uns Gedanken machen, wie der Standort attraktiver werden kann“. Der Picker muss lachen, als er das erzählt. „Die Aufträge werden umgeleitet, unsere Produktivität sinkt und ich soll mir Gedanken machen, wie das zu ändern ist“, sagt er sarkastisch. Zur Verlagerung von Aufträgen sagt der Amazon-Sprecher dagegen: „Das kann ich nicht bestätigen.“

2017 war für Amazon in Deutschland ein Rekordjahr (siehe: „Der Handels-Riese“). Gut ein Drittel des deutschen Online-Handels wird inzwischen über die Amazon-Seite abgewickelt. Die starke Stellung rührt auch daher, dass viele selbstständige Händler mittlerweile über die Seite ihre Waren verkauften. Das stärkt Amazon.

Und die nächste Stufe in der Entwicklung der Lager wird beschritten. Der Standort Winsen ist das erste deutsche Logistikzentrum, das Transportroboter einsetzt. Die Picker gehen nicht mehr zu den Regalen, sondern die Regale kommen zum Picker. In den kommenden Jahren dürfte die Automatisierung fortschreiten. Amazon hat eigene Roboter-Firmen.

Kann die Gewerkschaft unter diesen Umständen den Arbeitskampf noch gewinnen? Schneider glaubt daran: Bei Amazon in Leipzig stammen inzwischen elf der 19 Betriebsräte von der Verdi-Liste. „Alle Verbesserungen bei der Arbeit mussten sich die Beschäftigten erst erkämpfen“, sagt Schneider. „Das ist mühsam, aber nicht aufzuhalten.“ Amazon sieht Tarifverträge dagegen eher „als Relikt aus vergangenen Zeiten“.  (mz)