100 Tage Mindestlohn in Sachsen-Anhalt 100 Tage Mindestlohn in Sachsen-Anhalt: Gastronomen klagen über "Bürokratiemonster"

Wörlitz - Der Gastronom Michael Pirl ist bedient. In vierter Generation führt er das Hotel „Zum Stein“ in Wörlitz. Selbst zu DDR-Zeiten konnte die Familie den heute mehr als 100 Jahre alten Betrieb über Wasser halten. Nach der Wende lief es auch recht gut für das Haus mit derzeit 74 Mitarbeitern. Eigentliche könnte der 46-Jährige zufrieden sein. Doch eines treibt ihn seit dem 1. Januar um: Das Mindestlohngesetz. „Das ist ein Bürokratiemonster“, klagt der Hotelier. Besonders Gaststätten und Hotels hätten damit zu kämpfen.
8,50 Euro pro Stunde
Die Zahlung von mindestens 8,50 Euro pro Stunde sei natürlich besonders für kleine Betriebe eine Belastung, sagt Pirl. Doch eine weit größere Herausforderung für alle in der Branche sei die im Gesetz verankerte strenge Dokumentationspflicht über das Einhalten der Arbeitszeiten. „Die ist mit heißer Nadel gestrickt. Da müssen Ausnahmeregelungen her“, fordert Pirl, der auch Vizepräsident des Hotel- und Gaststättenverbandes Dehoga in Sachsen-Anhalt ist.
Der Chef der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit in Halle, Kay Senius, hat 100 Tage nach Einführung des Mindestlohngesetztes eine positive Bilanz gezogen. „Wegen der zu zahlenden 8,50 Euro pro Stunde hat es in Sachsen-Anhalt keinen signifikanten Abbau von Arbeitsplätzen gegeben“, sagte er. Das besonders von Unternehmen aufgezeigte Horrorszenario sei ausgeblieben. Er habe dem Mindestlohn von Anfang an positiv gegenübergestanden, weil er Arbeitsplätze in Sachsen-Anhalt attraktiver machen könne.
Die Arbeitsagentur beobachte die weitere Entwicklung mit Blick auf den Mindestlohn genau. „Nach unserer Einschätzung kommt es auch in den kommenden drei Monaten zu keiner größerer Freisetzung von Arbeitskräften“, sagte Senius.
Besonders in Branchen wie dem Reinigungsgewerbe, in der Landwirtschaft, in der Garten- und Landschaftsgestaltung, und in Call-Centern seien die Befürchtungen groß gewesen, dass zahlreiche Job wegbrechen. Doch auch dort seien keine Stellen abgebaut worden.
Er sei mit Leib und Seele Gastronom und wolle den Gästen Freude bereiten. „Doch soll ich eine Feier abrechen, die länger währt als ursprünglich vorgesehen, nur weil mein Mitarbeiter dann länger als die im Gesetz vorgeschriebenen zehn Stunden arbeiten müsste? Auch die geforderte vorherige Festlegung der Pausenzeiten für die Mitarbeiter sei unrealistisch. Was ist, wenn da plötzlich ein Ansturm ist?
„Kontrolliert wurde immer, aber nicht so streng“, sagt Pirl. Er habe sich immer mit seinen Beschäftigten einigen können. Wenn es mal etwas länger wurde, hätten sie die Überstunden einfach abbummeln können, wenn nicht so viel Betrieb war. Da der Zoll nun scharf kontrollieren muss, sei dies nun nicht mehr möglich.
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„Das Gesetz ist Murks, man will das Gute und schafft das Schlechte“, sagt der Hauptgeschäftsführer der IHK Halle-Dessau Thomas Brockmeier. Er fordert, dass die Arbeitszeiten nur noch von den Beschäftigten genau erfasst werden, die weniger als 2000 Euro im Monat verdienen. Im Mindestlohngesetz liegt die Grenze bislang bei 2958 Euro. „Ein Arbeitnehmer müsste nach diesem Richtwert zwölf Stunden täglich an 29 Tagen im Monat arbeiten“, sagt Brockmeier. Das widerspreche jeglicher Praxis.
Zoll kontrolliert Arbeitszeiten
Seit Januar muss der Zoll die Arbeitszeiten kontrollieren. „Wir haben noch keine ernsthaften Verstöße gegen das Mindestlohngesetz festgestellt“, sagt Grit Rudert, Sprecherin des Hauptzollamtes Magdeburg. Zusätzliche seien 1600 neue Stellen für die Kontrollen notwendig, die bis 2019 geschaffen werden sollen.
Es gebe schon Unternehmen, die das Gesetz umgehen wollen, weiß Marion Knappe, Sprecherin des DGB in Berlin. So seien ihr Fälle bekannt, bei denen Unternehmen statt der 8,50 Euro für die Beschäftigten von Solarien und Saunen Gutscheine anstelle von Geld ausgeben. Außerdem würden Anfahrten von Pflegediensten nicht bezahlt. Täglich gingen 100 bis 120 Anrufe bei der Hotline des DGB ein, am Anfang seien es sogar 300 bis 400 gewesen.
Der allgemeine, flächendeckende Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde gilt seit dem 1. Januar 2015. Bei diesem Stundenlohn und einer 40-Stunden-Woche bekommt ein Arbeitnehmer 1473 Euro brutto im Monat. Um Langzeitarbeitslosen den Job-Einstieg zu erleichtern, kann bei ihnen in den ersten sechs Monaten vom Mindestlohn abgewichen werden.
Für Unter-18-Jährige ohne Berufsabschluss, Auszubildende und Menschen mit Pflichtpraktika oder Praktika unter drei Monaten gilt der Mindestlohn nicht. Hinzu kommt die Pflicht für Arbeitgeber, Beginn, Ende und Dauer der täglichen Arbeitszeit zu erfassen. Zuständig für die Kontrolle der Einhaltung ist der Zoll.
„Es gibt schwarze Schafe, auch in der Gastronomie“, räumt Pirl ein. Doch die meisten Unternehmen würden sich an das neue Gesetz halten. Gastfreundlich sei das nicht immer. So seien kürzere Öffnungszeiten, Ruhetage, die punktuelle Freisetzung von Mitarbeitern und die Verlagerung des Saisonbeginns von März/April auf Mai die Folge.
„Wir müssen das erste Halbjahr abwarten“, sagt Pirl. Doch schätzungsweise 20 Prozent der Betriebe werden aufgeben, besonders kleine im ländlichen Raum, die es auch ganz schwer haben, einen Nachfolger zu finden. Das könnte wiederum negative Auswirkungen auf die Touristenzahlen im Land haben. (dpa)