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Wählergemeinschaften Wählergemeinschaften: Frei nach vorn

Von Jörg Biallas 10.11.2009, 17:56

Halle/MZ. - Als die Demokratie die Diktatur in das Grab der Geschichte schob. Als sich die Menschen in Leipzig, Berlin oder Halle trafen, um einen neuen, einen besseren Staat ins Leben zu rufen. Viel war in diesen Tagen von Aufbruch, von Einmischen, von Verantwortung des Einzelnen für das Ganze die Rede. Es wurde appelliert, diskutiert, organisiert. Aufbruch überall.

Bald schon versank die so lautstark gestartete Volksbewegung in Stille. Die Begeisterung, das öffentliche Leben endlich mitgestalten zu können, wich der Sorge um die persönliche Zukunft. Demokratie wurde mehr und mehr als Angelegenheit der Politiker im Fernsehen wahrgenommen. Eine entrückte Welt, die wenig mit der eigenen zu tun hatte. Schneller noch als die Arbeitslosenrate wuchs der Verdruss über ein System, das die Parteien vermeintlich zu einer Tauschbörse für Macht und Vorteilsnahme gemacht hatten.

In diesem Klima der Unzufriedenheit gediehen über die Jahre gerade in Ostdeutschland zwei Bewegungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Rechtsextremismus und freie Wählergruppen.

Außer destruktivem, aus ewig gestriger Dumpfheit gespeistem Protest entwickelte sich vielerorts ein projektbezogenes Engagement von Bürgern, denen das Geschehen in ihrer Stadt oder Gemeinde nicht egal ist. Initiativen für eine Ortsumgehung oder gegen eine Schweinemastanlage, für den Erhalt der Feuerwehr oder gegen die Schulschließung. Frei nach vorn: Oft ist solcher Einsatz am Wahltag von Erfolg gekrönt. Nicht zuletzt auf Kosten der Parteien, die landläufig als etabliert bezeichnet werden, diesem Attribut aber immer weniger gerecht werden.

Mit derart gestärktem Selbstbewusstsein streben die freien Wählergemeinschaften jetzt auch in Sachsen-Anhalt in den Landtag. Den dort vertretenen Parteien sollte das zu denken geben. Denn erstens steigt die Zahl politisch interessierter Menschen, die sich aber beim bisher vorhandenen programmatischen Angebot von links bis rechts offenbar nirgends zu Hause fühlen. Und zweitens gelingt es den großen Parteien mancherorts bei Kommunalwahlen nicht einmal mehr, den Freien überhaupt eigene Kandidaten entgegenzusetzen.

Zudem kommt das "Geschäftsmodell" der Freien Wähler den Bedürfnissen der nachwachsenden Generation entgegen. Ähnlich dem Verhalten beim Surfen im Internet wird auch Politik punktuell wahrgenommen. Es zählt der Einzelfall. Ganzheitliche Angebote für einen Gesellschaftsentwurf, wie es Parteiprogramme nun einmal zwangsläufig sind, werden als viel zu komplex und kompromissbelastet abgelehnt.

Gewiss, diese Haltung muss man nicht teilen. Wer sich damit aber nicht auseinandersetzt, wird dem absehbaren Erfolg der freien Wählergemeinschaften in Sachsen-Anhalt und anderswo einigermaßen fassungslos gegenüberstehen.

Kontakt zum Autor: Jörg Biallas