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Schweiz Schweiz: Victorinox ist ein Arbeitnehmerparadies

Von Heinz-Peter Dietrich 13.07.2010, 10:35
Schweizer Kreuze, Logo auf jedem Messer des Messerherstellers Victorinox. (FOTO: DPA)
Schweizer Kreuze, Logo auf jedem Messer des Messerherstellers Victorinox. (FOTO: DPA) dpa

Ibach/Schwyz/dpa. - Der Papst hat eins, bei den US-Astronauten gehört es zur Standardausrüstung, und deutsche und dänische Soldatennutzen es ebenso wie natürlich die Schweizer Armee seit 1891: DasSchweizer Messer der Firma Victorinox aus dem Kanton Schwyz. DasUnternehmen beschäftigt rund 1800 Menschen, machte 2009 fast einehalbe Milliarde Franken (374 Mrd Euro) Umsatz und ist schon durch somanche Krise gegangen. Doch bei Victorinox wurde noch nie jemandemaus betriebsbedingten, also wirtschaftlichen Gründen gekündigt. Unddas soll auch so bleiben, versichern die derzeitigenFirmenverantwortlichen, die alle auf den Namen Elsener hören. Seit125 Jahren gilt das Motto «Bescheidenheit und Dienstbereitschaft».

Es gibt kaum ein Unternehmen, in dem die Mitarbeiter so häufigDienstjubiläen feiern - allein in diesem Jahr rund 30, wobei erst ab25-jähriger Betriebszugehörigkeit gewürdigt wird. Dutzende sind 40oder gar 50 Jahre im Betrieb. Geht man durch die blitzsauberenWerkshallen, findet man niemanden, der nicht schon seit vielen Jahrendort beschäftigt ist - sieht man einmal von den rund 40Auszubildenden ab. Bis zu 30 behinderte Menschen werden beschäftigt,darunter auch ein Blinder, der Messer zusammensetzt. Und längst istdas Schweizer Messer - das weltberühmte «Swiss Army Knife» - nichtmehr das einzige Standbein der Firma im Zentralkanton Schwyz. DieFirma hat sich als Markenzeichen aufgestellt, unter dem auch Besteckund Uhren, Kleidung, Koffer, Elektronik und sogar Parfüm verkauftwird.

Das 1884 von Karl Elsener in Ibach-Schwyz gegründeteMesserschmiedegeschäft ist bis heute ein Familienunternehmengeblieben. Und wenn es rundherum auch kracht und zusammenbricht, wenndie Börse mit ihrem Auf und Ab ruft, bei Victorinox zählen dieAttribute Ehrlichkeit und Heimatverbundenheit uneingeschränkt weiter,wie Hans Schorno, seit 19 Jahren dabei, aus der Chronik berichtet.Damit das so bleibt, wurde das Firmenvermögen vor zehn Jahren zu rund90 Prozent in Stiftungen überführt. Nicht einmal zehn Prozent desKapitals sind in Familienbesitz. Elf Kinder verzichteten praktischauf ihr Erbe. Eine «gigantische Überzeugungsarbeit wurde dageleistet», weiß ein Insider. Sie sei aber auf fruchtbaren Bodengefallen, da alle Familienmitglieder in diesem Geist, bei dem Demutganz vorne steht, erzogen worden seien.

Bei Victorinox - der Name setzt sich übrigens aus dem Vornamen derMutter des Firmengründers «Victoria» und dem Kurznamen des 1921erfundenen rostfreien Stahls «Inox» (französisch: inoxydable -rostfrei) zusammen - liegen die Löhne etwa zehn Prozent über demschweizerischen Durchschnitt. Und das Mindestgehalt der Mitarbeiterbeträgt rund 50 000 Schweizer Franken (etwa 37 500 Euro). Aber dieSpitzenkräfte bekommen nur knapp fünf Mal so viel, so dass sie unter250 000 Franken pro Jahr liegen. So etwa ist es wohl auch beiJuniorchef und Geschäftsführer Carl Elsener (52), der das Unternehmenin der vierten Generation führt. Und Seniorchef Carl Elsener, heute87, dessen Dienstfahrzeug bis vor einigen Jahren ein Fahrrad war,wird noch heute in das Unternehmen gebracht, um an seinen geliebtenSchreibtisch zu arbeiten - aber nicht, um sein Vermögen zu mehren.

Iriz Ayten aus der Türkei ist seit 25 Jahren im Unternehmen. Siesetzt Messerklingen zusammen und hört dabei Musik. «Ich fühle michwohl und kann mir kaum ein anderes Unternehmen vorstellen», ist sieüberzeugt. Sie sehe sich einer Familie zugehörig. Dass sie alsAusländerin gekommen sei, habe man sie nie spüren lassen. Und derStarnberger Matthias Seyfang, als Geschäftsführer für dieParfümsparte zuständig, ist zwar erst seit 2007 dabei. Aber er findetdas Unternehmen einzigartig. «Sie gehen hier liebevoll mit einem um.Man merkt, dass sie sich um einen kümmern, man ist etwas wert - unddas ist kein Marktwert», sagt Seyfang, dessen Sohn Andi (24) derzeitin Genf im Luxusgeschäft von Victorinox praktiziert.

Immer wieder kommt es bei den Jubilarfeiern zu Begegnungenzwischen den Geehrten und dem Senior- und dem Juniorchef, die stetspersönlich zum Jubiläum gratulieren - eingereiht in eine langeSchlange von Mitarbeitern. Die Dankbarkeit etwa eines starksehbehinderten Mannes, der im Unternehmen so lange Zeit Arbeit undAnerkennung erfahren hat, ist tief und ehrlich. Die Danksagungenwollen kein Ende nehmen.

In den Werkshallen trifft man nur auf Menschen, die sich der Firmavoll zugehörig fühlen. Etwa Adi Laimbacher im Lager, ein 30-jährigersogenannter Spitzenschwinger. Schwingen ist die Schweizer Form desRingens. Laimbacher kann sich seine Arbeit so einteilen, dass ihmZeit zum Trainieren bleibt. «Ich kann mich entfalten und manrespektiert mich und meinen Sport - wo gibt es das schon», sagt derHüne fröhlich.

Geschäftsführer Seyfang hat sich gewundert, warum es in seinerAbteilung kaum Krankmeldungen gibt. «Ich war das von meinen früherenArbeitgebern her nicht gewohnt, und es fiel mir auf, dass kaum jemandfehlte. Es ist das Arbeitsklima, wurde mir plötzlich klar.» AuchSeyfang, so ist es gewünscht, soll sich als Vorgesetzter mit einemBlumenstrauß aufmachen und einen Kollegen oder eine Kolleginbesuchen, die wirklich krank sind. «Das gehört dazu, wir wollen undmüssen uns kümmern - zum Wohle aller und des Unternehmens».

Als eine Mitarbeiterin eine Sehnenscheidenentzündung von den immergleichen Handbewegungen bekam, wurde eine Spezialistin ins Werkgerufen. Dies war der Auslöser für fünfminütige Entspannungsübungen,welche die Abteilungen gerne nutzen - drei Mal am Tag. Diekrankheitsbedingten Abwesenheitsstunden gingen fortan von 42 000 auf28 000 zurück.

Nach den Terroranschlägen in New York am 11. September 2001 brachbei Victorinox der Umsatz um rund ein Drittel ein. Alle Messer, anden Flughäfen in den Shops als beliebtes Mitbringsel gekauft und hoheUmsatzträger, waren plötzlich verboten. «Wir gerieten in eine derschlimmsten Krisen unserer Firmengeschichte», berichtet Schorno. Dochdie Firmenethik verbat, Mitarbeiter zu entlassen. Also wurden 15Prozent der Mitarbeiter an andere Firmen in der Umgebung ausgeliehen.In diesen Unternehmen wurden Arbeitskräfte gebraucht, etwa zurHerstellung von Elektrogeräten. Als es wieder aufwärts ging, kehrtensie an ihre alten Arbeitsplätze zurück.

Fairness und soziale Verantwortung sind bei Victorinox tiefverankert und wurzeln nach Angaben Schornos in der christlichenEthik. Dazu gehört etwa die Integration von Menschen andererKulturkreise oder von Behinderten. Oder eine aktive Sozialpolitikdurch deutliche Zugaben bei den vorgeschrieben Sozialzulagen wie etwaKinder- und Familiengeldern. In rund 100 betriebseigenen Wohnungennahe zum Arbeitsplatz kann preiswerter gewohnt werden. Die Heizkostensind niedrig, da Wärme aus den werkseigenen Recyclinganlageneingespeist wird.

Besteht bei so viel sozialen Hängematten nicht die Gefahr, dasseinige das ausnutzen - auf Kosten der anderen? «Wir sehen uns dieLeute bei der Einstellung genau an», sagte Schorno. «Sie müssen zuuns passen, und das spüren wir.» Fähige Mitarbeiter muss dasUnternehmen nicht lange suchen, die Bewerber stehen Schlange. VieleMitglieder der Familien von Mitarbeitern treten wieder in das Werkein.

Es ist dem Besucher beim Werksrundgang kaum möglich, einenunzufriedenen Mitarbeiter zu finden - auch dann nicht, wenn erunbemerkt von der offiziellen Begleitung mit einem Beschäftigtenspricht. «Es ist ja nicht das Paradies hier - das gibt es eh nicht»,meinte einer, der nach eigenen Angaben über 25 Jahre dabei ist. «Aberwir sind schon ganz schön nahe dran.»

Als Victorinox 2005 den traditionsreichen Messerhersteller Wengerübernahm, wurde nicht etwa ein Konkurrent ausgeschaltet. DasUnternehmen produziert vielmehr unter dem alten Namen weiter. Nurgilt auch dort die Victorinox-Ethik: Nachhaltigkeit undBescheidenheit als Tradition. Die Mitarbeiter im strukturschwachenKanton Jura können ziemlich sicher sein, ebenfalls nicht ausbetriebsbedingten Gründen eine Kündigung zu erhalten.

Um einen bedeutenden Auftrag, das Soldatenmesser der SchweizerArmee, weiterhin produzieren zu können, musste sich Victorinox 2008mit anderen Unternehmen messen, weil eine weltweite Ausschreibungverlangt wurde. Billiganbieter aus Asien hätten zur bedrohlichenKonkurrenz werden können. Doch Victorinox gewann die Ausschreibungvor sechs Konkurrenten: 75 000 Soldatenmesser wurden geordert, dieArbeit geht weiter.

Zahlreiche Taschenmesser des Schweizer Unternehmens Victorinox sind in Nürnberg auf der Jagd- und Sportwaffenmesse IWA & OutdoorClassics zu sehen (FOTO: DPA)
Zahlreiche Taschenmesser des Schweizer Unternehmens Victorinox sind in Nürnberg auf der Jagd- und Sportwaffenmesse IWA & OutdoorClassics zu sehen (FOTO: DPA)
dpa
Die Türkin Iriz Ayten arbeitet in Ibach (Schweiz) beim Messerhersteller Victorinox. (FOTO: DPA)
Die Türkin Iriz Ayten arbeitet in Ibach (Schweiz) beim Messerhersteller Victorinox. (FOTO: DPA)
dpa