Schule Schule: Hilferufe der Hochbegabten
MERSEBURG/MZ. - Die Diagnose Hochbegabung ist nicht immer eine gute Nachricht. Denn der Schulalltag ist mit einem Intelligenzquotienten über 130 manchmal schwerer zu bewältigen als für ein durchschnittlich begabtes Kind. "Es kommt vor, dass sich ein hochbegabtes Kind aufgrund seiner Noten ab einer bestimmten Klassenstufe in der Sekundarschule statt im Gymnasium wiederfindet", sagt Lysann Heyde-Marold.
Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Soziale Arbeit, Medien und Kultur der Hochschule Merseburg untersucht, warum das so ist. "Ich möchte herausfinden, wovon Erfolge und Misserfolge hochbegabter Kinder in der Schule abhängen", sagt Heyde-Marold. Vorrangig gehe es darum, die Einstellungen der Schüler zur Schule zu erheben. Daraus sollen individuelle Strategien entwickelt werden, wie die Kinder in der Schule besser zurechtkommen.
In ihrem aktuellen Forschungsprojekt hat Heyde-Marold 600 Kinder zwischen 12 und 17 Jahren an drei Gymnasien und Sekundarschulen in Sachsen-Anhalt befragt. Dabei müsste man wegkommen von der Frage, wie sich die Kinder ändern müssen, um zu "funktionieren", sagt die Wissenschaftlerin. "Wir müssen auch fragen, was das Schulsystem dazu beitragen kann." Wichtig sei unter anderem, dass Schüler leichter Klassen überspringen können. "Es muss mehr Akzeptanz finden, wenn Kinder das Bildungssystem anders durchlaufen", so Heyde-Marold. Im Unterricht werde zudem häufig verlangt, dass Kinder Aufgaben nach bestimmten Schemata lösen. Eigene Ideen würden häufig nicht anerkannt, die Motivation der Schüler leide darunter.
Nach Ansicht von Heyde-Marold ergeben sich viele Probleme aus der mangelnden Aufklärung über Hochbegabung an Schulen. "Es gibt Lehrer, die nicht glauben wollen, dass ein Kind besonders begabt ist, obwohl es in Mathe eine Fünf hat", sagt sie. Nicht nur an Erfahrung mangelt es. Viele Lehrer hätten auch zu wenig Zeit, sich um einzelne Schüler intensiv zu kümmern und dabei Gründe für schlechte Leistungen oder fehlende Motivation zu erkennen.
Seit Anfang dieses Jahres beschäftigt sich Heyde-Marold nicht nur theoretisch mit besonders begabten Kindern. Sie leitet eine neue Beratungsstelle an der Hochschule Merseburg, die Hochbegabte und deren Eltern unterstützt. "Die Idee hat sich aus der Nachfrage ergeben", sagt Heyde-Marold. Die Wissenschaftlerin befasst sich seit rund fünf Jahren mit dem Thema. Immer häufiger erhielt sie Anfragen von Eltern, die Fragen zu ihrem hochbegabten Kind hatten. Obwohl es auch Eltern gebe, die sich gerne mit der Hochbegabung ihres Nachwuchses schmückten, seien die meisten eher besorgt, wenn ein IQ über 130 festgestellt werde.
"Viele Kinder, die zu mir kommen, bestehen nur aus Diagnose", sagt Heyde-Marold. Hochbegabt, verhaltensauffällig, mangelnde Lernmotivation: Das Kind dahinter werde manchmal zu wenig wahrgenommen, sagt die Wissenschaftlerin. Diesen Blick wolle sie verändern. Vor allem wolle sie aber denjenigen Kindern helfen, die trotz hoher Potenziale in der Schule Probleme haben. Sie will ihr Selbstwertgefühl steigern, die Motivation erhöhen und Lernstrategien vermitteln. "Wenn Kinder in der Grundschule nicht lernen mussten, um dem Unterricht zu folgen, kommt spätestens ab der siebten Klasse ein Leistungseinbruch", sagt Heyde-Marold. Sie müssen erst lernen, wie sie für die Schule lernen können, um ihr Potenzial auszuschöpfen. Es gebe Schüler, die mit der Zeit selbst nicht mehr daran glauben, über außergewöhnlich hohe intellektuelle Fähigkeiten zu verfügen. Nicht zuletzt will sie den Familien auch verdeutlichen, dass es sich unabhängig von der Begabung um Kinder handelt. "Sie müssen auch spielen dürfen und einfach mal nur Kind sein."