Produktionsverlagerung Produktionsverlagerung: «Die große Welle nach Osteuropa ist schon vorüber»

Halle/MZ. - Siemens tut es, der Modehersteller Steilmann hat es schon längst getan und viele mittelständische Unternehmen denken darüber nach: Produktionsverlagerung nach Osteuropa. Jahr für Jahr schaffen deutsche Firmen über 50000 Jobs im Ausland, errechnete der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK). Mit dem EU-Beitritt rücken die acht osteuropäischen Staaten noch näher an Deutschland heran. "Wirtschaftlich läuft der Vereinigungsprozess aber schon seit Jahren", sagt Dieter Schumacher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin. Deutsche Firmen investierten seit 1991 bereits 36,8 Milliarden Euro in Osteuropa.
Niedrige Löhne und günstige Steuersätze (siehe Grafik) ziehen vor allem beschäftigungsintensive Industrien an. Erst waren es Textil- und Baufirmen, danach Banken, Autobauer und nun auch Software-Entwickler, die den Osten untereinander aufteilen. "Doch die große Welle in die EU-Beitrittsstaaten ist wohl schon vorüber", glaubt DIHK-Geschäftsführer Martin Wansleben. Im Jahr 2003 waren die deutschen Direktinvestitionen nach Osteuropa rückläufig. Der Verbandschef sieht den "Standort D" durch die Erweiterung der EU gestärkt. "Durch Arbeitsteilung werden deutsche Firmen wettbewerbsfähiger." Das Dessauer Unternehmen Nirove Industrie Service GmbH ist hierfür ein Beispiel. Die auf Entlackung von Alufelgen spezialisierte Firma gründete vor drei Jahren eine Niederlassung in Polen. "Unsere Großkunden gingen in den ehemaligen Ostblock, da mussten wir mit", sagt Senior-Chef Hans Seidel. Inzwischen ist die Firma neben Polen in Italien und Mexiko mit Produktion vor Ort. Die Arbeitsplätze in Dessau habe dies nicht gefährdet sondern gesichert. Aus den Gewinnen der Töchter wird in Dessau nun investiert.
Die Investitionen deutscher Firmen in Osteuropa belasten den deutschen Arbeitsmarkt auch weniger stark als vermutet. Zwischen 1990 und 2001 sind nach einer Studie des renommierten Londoner Forschungsinstituts CEPR per saldo 90000 Jobs durch Produktionsverlagerungen verloren gegangen. "Problematisch sind nicht einzelne Abwanderungen", meint Wirtschaftswissenschaftler Schumacher, "sondern, dass neue Arbeitsplätze in Deutschland nicht entstehen." Er verweist hier auf Strukturprobleme des deutschen Arbeitsmarktes. Von Geschäften mit Osteuropa profitiere die Wirtschaft. Die Exportbilanz weist bei fast allen Staaten ein leichtes Plus aus und erreicht das Niveau deutscher Ausfuhren nach Nordamerika.
Schwieriger ist die Situation für ostdeutsche Firmen. "Viele Unternehmen haben sich in den letzten Jahren eine gute Position als Zulieferer aufgebaut und geraten nun unter Druck von polnischen und tschechischen Konkurrenten", sagt Klaus Liedke, Hauptgeschäftsführer der Landesvereinigung der Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in Sachsen-Anhalt.
Auslagerung von Produktion komme für kleinere Betriebe nur in einzelnen Fällen in Frage. Vielmehr sei das Interesse an Kooperationen stark gestiegen. Standortwechsel sind mit hohen Risiken verbunden: Jedes dritte Unternehmen, das seine Produktion ins Ausland verlagert, nimmt seine Entscheidung zurück, ergab eine Studie des Fraunhofer Instituts für Systemtechnik und Innovationsforschung in Karlsruhe. Geplante Kostenreduzierungen lassen sich oft nicht im geplanten Umfang realisieren.
Der Wettbewerb wird sich in den nächsten Jahren dennoch verschärfen, schätzt DIHK-Chef Wansleben. Er fordert daher mehr Flexibilität für deutsche Betriebe bei Arbeitszeiten und Gehältern, um Industrieproduktion attraktiv zu halten.