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Zweiter Weltkrieg Zweiter Weltkrieg: Die Wahrheit über den Händedruck in Torgau

Von Steffen Könau 27.04.2015, 06:53
Das nachgestellte Foto aus Torgau, das Geschichte machte.
Das nachgestellte Foto aus Torgau, das Geschichte machte. dpa Lizenz

Halle (Saale) - Zumindest in Büchern liest sich das letzte Kapitel der Westfront des II. Weltkrieges wie ein Spaziergang. Ende März haben Briten, Amerikaner und Franzosen den Ruhrkessel um die 300 000 Soldaten der Heeresgruppe B der Wehrmacht geschlossen. Anfang April setzen die Alliierten ihren Vormarsch Richtung Osten fort, nahezu ungehindert. Mitte April schon liegt die Harzlinie hinter ihnen. Während im Osten erbittert um die Seelower Höhen gekämpft wird, kennt die Westfront, die im Bereich Sachsen-Anhalt und Thüringen von einer notdürftig zusammengefegten 11. Armee verteidigt wird, vor allem Geschichten von geretteten Städten und Dörfern, in denen die Bevölkerung weiße Fahnen aus den Fenstern hängt.

Es sind keine 350 Kilometer von Dortmund bis Halle. 350 Kilometer, die die 1., 3. und die 9. US-Army zudem weitaus schneller nehmen als die sowjetischen Truppen im Osten die 70 Kilometer von Seelow bis zum Führerbunker in Berlin überwinden können. Doch weitgehend unerzählt sind die Tragödien auf dem Weg, ungezählt die Menschen auf beiden Seiten, die noch Minuten vor Schluss in Gefechten um heute längst vergessene Hügel, Bäche, Vorwerke und Häuser sterben.

Keiner ist sicher

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Denn es ist in Wirklichkeit ein langer Weg durch Feindesland, den die Amerikaner gehen müssen. 350 Kilometer, und keiner ist sicher. Ilsenburg wird kampflos genommen, in Darlingerode gibt es Gefechte. Wernigerode fällt ohne einen Schuss, doch vor Mulde und Elbe hat Generaloberst Hermann Hoth, Befehlshaber Saale, eine neue Hauptverteidigungslinie in seine Karten gemalt. Hoth soll den Sektor Halle/Leipzig verteidigen, bis die 12. Armee kampfbereit ist. Nach Erfüllung dieser Aufgabe würden beide Armeen dann „möglichst bald mit dem Angriff Richtung Westen beginnen“.

Illusionen, die auf jedem Meter Opfer fordern. Hunderte Flakbatterien, die das mitteldeutsche Industriegebiet eigentlich gegen Luftangriffe verteidigen sollen, sind für den Erdkampf umgerüstet. US-Panzer fahren mehr als einmal ahnungslos in massives Feuer. In Artern werden Brücken gesprengt, doch die Verteidiger der Straßensperren fliehen, ehe der erste amerikanische Jeep in Sicht kommt. Kampflos ergibt sich die Stadt dennoch nicht: Aus einem amerikanischen Sherman-Panzer, den die Wehrmacht während der Ardennen-Offensive erobert hat, schießen einige Fanatiker auf die Männer der Kompanie D der 19. Tankbrigade. Private Theodor J. Moder wird dabei verletzt, die Angreifer verschwinden spurlos. Es ist der 12. April, es sind noch hundert Kilometer bis Leipzig und immer noch 170 bis zur Elbe.

Warum dies ein blutiger Weg werden sollte, lesen Sie auf Seite 2.

Ein blutiger Weg. Erst am 25. April trifft ein Erkundungstrupp der 69. US-Division bei Strehla südlich von Torgau an der Elbe ein. Drei Dutzend Männer unter dem Kommando von Leutnant Albert Kotzebue sollen herausfinden, ob noch deutsche Truppen vor ihrem 273. Infanterie-Regiment stehen und wie weit es bis zu den Einheiten der sowjetischen Verbündeten ist. Die Elbe haben der US-Oberkommandierende Dwight D. Eisenhower und sein Präsidenten Franklin D. Roosevelt als Haltelinie für ihre Truppen festgelegt. Der britische Premier Winston Churchill hatte zwar lange dafür gestritten, die westalliierten Einheiten Berlin angreifen zu lassen, um die Stadt später als Faustpfand gegen Stalin einsetzen zu können. Doch angesichts der hunderttausend Opfer, mit denen das US-Oberkommando in der Schlacht um Berlin rechnet, bleibt es bei der Abmachung, dass die deutsche Hauptstadt den Sowjets gehört.

Roosevelt informiert Churchill über seine Entscheidung. Die eigenen Truppen informiert er nicht. General Omar Bradley, der die durch Mitteldeutschland vorstoßende 12. Heeresgruppe mit ihren mehr als 1,3 Millionen Soldaten führt, muss allerdings dafür sorgen, dass seine und die entgegenkommenden Sowjet-Truppen nicht irrtümlich aneinandergeraten.

Das soll First Lieutenant Kotzebue sicherstellen, zu dessen Kommando auch der 26-jährige Soldat Joseph Polowsky gehört. Polowsky ist in Chicago geboren, als Sohn jüdischer Emigranten aus Kiew aber spricht er gut Deutsch. Kurz vor Mittag entdecken Kotzebues Männer - befehlswidrig weit außerhalb ihre Patrouillenbereiches - russische Soldaten. Sie schießen grüne Leuchtkugeln ab. Die Russen antworten mit einer roten.

Mit sechs Männern, darunter auch Soldat Polowsky, setzt der 23-jährige Kotzebue aufs östliche Elbufer über. Sein Handschlag mit Oberstleutnant Alexander Gordejew vom 175. Gardeschützen-Regiment besiegelt die Trennung Deutschlands in einen südlichen und einen nördlichen Teil. Um 13.30 Uhr funkt Kotzebue die Meldung über den historischen Moment an seinen Stab. Hitlers Reich ist zerschnitten. Es führt kein Weg mehr von Berlin nach Süden - für Albert Kotzebue nichts weniger als „der biblische Triumph des Lichtes über die Finsternis“.

Drei Stunden später erst wird es zum Treffen amerikanischer und sowjetischer Truppen an der Elbe bei Torgau kommen, das heute offiziel als der Augenblick gilt, an dem Ost- und Westfront einander berühren und Deutschland geteilt wird. Die Begegnung von Torgau geht in die Geschichte ein. Das Aufeinandertreffen von Kotzebues und Gordejews Soldaten hingegen wird später kaum noch erwähnt. Fotos gibt es nur wenige, sie werden seltener gezeigt als die vom angeblich historischen Handschlag bei Torgau. Dabei haben der sowjetische Fotograf Alexander Ustinow und sein US-Kollege Allan Jackson den erst am Tag danach mit US-Leutnant William Robertson und Sowjet-Leutnant Alexander Silwaschko nachgestellt. Aber gut: Man sieht die Männer auf der zerstörten Brücke stehen, die Hände über eine Kluft ausgestreckt. Sie lächeln. Sie rauchen. Sie freuen sich.

Die unterschiedlichen Wahrheiten über den Händedruck in Torgau lesen Sie auf Seite 3.

Solche Bilder konnte das wirkliche erste Treffen nicht liefern. Das Ufer der Elbe bei Lorenzkirch, berichtete Joe Polowsky später, war bedeckt von hunderten Leichen. Tote Frauen, alte Männer, Kinder. Ein fünf Jahre altes Mädchen habe in einer Hand eine Puppe gehalten und sich mit der anderen an seine tote Mutter geklammert, erzählte Polowsky. Wahnsinn des Krieges: Ein Teil der Menschen ist getötet worden, als ein Wehrmachtskommando eine Pontonbrücke sprengt, obwohl noch Tausende von Flüchtlingen über die letzte offene Verbindung nach Westen strömen. Die übrigen trifft sowjetisches Artilleriefeuer, das eigentlich auf fliehende Wehrmachtstruppen zielt.

Unterschiedliche Wahrheiten

Der „See aus Leichen“ (Polowsky) ist nicht die Kulisse, die zum Anlass passt. Polit-Kommissar Igor Karpowitsch entscheidet deshalb, dass sich Kotzebues und Gordejews Männer lieber in der Nähe noch einmal offiziell treffen sollen. Die Amerikaner setzen wieder über, und am Nachmittag kommt man dann tatsächlich drei Kilometer elbabwärts in Kreinitz bei Zeithain wieder zusammen, nun gelöster Stimmung. In Burxdorf, wo der Befehlsstand der Sowjets sitzt, trinken die Soldaten aus Amerika und der Sowjetunion ausgiebig auf Roosevelt und Stalin, sie spielen Gitarre und Akkordeon und singen zusammen. Seine Männer hätten versucht, den Russen den alten Folk-Song „Swanee River“ beizubringen, hat Albert Kotzebue, den alle „Buck“ nennen, später erzählt. Die Russen singen dafür ihren Gassenhauer „Katjuscha“.

Die Wahrheit des Krieges und die Wahrheit dessen, was über den Krieg berichtet werden wird, sie streben schon auseinander, obwohl das Schlachten noch nicht einmal beendet ist. Die US-Truppenzeitung „Stars and Stripes“ überschreibt ihren Bericht zwei Tage nach dem Erreichen der Elblinie mit „Yanks meet Reds“. Korrespondent Andy Rooney steht allerdings in Torgau, nicht in Lorenzkirch. Auch der „Friedensschwur von der Elbe“, auf den sich Joe Polowsky, der Philosophie-Student aus Illinois, ein Leben lang berufen wird, weil er und seine Männer ihn gemeinsam mit den Soldaten der Sowjetarmee über den Leichen von Lorenzkirch geleistet haben, zeigt 70 Jahre später deutliche Spuren nachträglicher Bearbeitung: Er heißt heute nach dem Ort, an dem er nie geschworen wurde, „Friedensschwur von Torgau“.

Vier Stunden vor der ersten Begegnung von US- und Sowjettruppen in Torgau wurden Leutnant Albert Kotzebue (l.) und seine Männer einige Kilometer südlich von Einheiten des 175. Gardeschützenregiment begrüßt. Wegen der Begleitumstände schaffte es dieses erste Treffen nicht in die Geschichtsbücher.
Vier Stunden vor der ersten Begegnung von US- und Sowjettruppen in Torgau wurden Leutnant Albert Kotzebue (l.) und seine Männer einige Kilometer südlich von Einheiten des 175. Gardeschützenregiment begrüßt. Wegen der Begleitumstände schaffte es dieses erste Treffen nicht in die Geschichtsbücher.
National Archives Washington Lizenz