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Zum Abschied von Gregor Gysi Zum Abschied von Gregor Gysi: Volksprediger mit Schattenseiten

Von Markus Decker 12.10.2015, 18:35

Berlin - Die Urteile könnten unterschiedlicher kaum sein. „Ich betrachte ihn als meinen Freund“, sagt Florian Havemann über Gregor Gysi. „Ich mag ihn. Und ich wünsche ihm alles Gute.“ Florian ist der Sohn des DDR-Bürgerrechtlers Robert Havemann, von dem es hieß, Gysi habe ihn an die Stasi verraten. Der Liedermacher Stephan Krawczyk sagt hingegen über den scheidenden Vorsitzenden der Linksfraktion: „Im Bundestag hat er oft Klartext geredet. Ich wünschte mir, dass er auch über seine eigene Vergangenheit Klartext geredet hätte.“ Hier aber habe sich dieser meist herauslaviert.

Hat Gysi für die Stasi gearbeitet?

Am Dienstag ist der letzte Tag des 67-Jährigen als Linksfraktionschef. Denn heute sollen die bisherigen Stellvertreter Sahra Wagenknecht und Dietmar Bartsch zu seinen Nachfolgern gewählt werden. Morgen wird er offiziell verabschiedet. Damit geht auch die Auseinandersetzung um die Vergangenheit des Anwalts zu Ende, die sich über 20 Jahre lang um die Frage drehte, ob er dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR zugearbeitet habe oder nicht. Nur eines haben die Kombattanten gemein: Sie sind müde.

Gysis hat bekanntlich einige Dissidenten gegen die Repressionen des SED-Regimes verteidigt. Darunter waren neben Havemann Ulrike Poppe, Bärbel Bohley und Vera Lengsfeld. Die 2010 gestorbene Bohley erhob Anfang der 90er Jahre den Vorwurf, er habe als Stasi-Zuträger fungiert. Zu dem gleichen Urteil kam Ende des vorigen Jahrzehnts die Bürgerrechtlerin Marianne Birthler als Chefin der Stasi-Unterlagenbehörde. Lengsfeld war es schließlich, die ihn vor drei Jahren wegen uneidlicher Falschaussage anzeigte. Auch dieses Verfahren bei der Staatsanwaltschaft Hamburg verlief im Sande. Gysi verlässt stattdessen als einer der populärsten Politiker die Bühne der Republik.

Schweigen oder ein Buch schreiben

Die einen erfüllt dies mit Ingrimm. Der sächsische Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Lutz Rathenow, sagt zwar, das Thema löse bei ihm keine Emotionen mehr aus. Dann aber fügt er hinzu, man könne dazu „nur schweigen oder ein ganzes Buch schreiben“. Das klingt eher nach Gefühlsstau. Rathenow sieht in dem Scheidenden „einen geschickt kalkulierenden Politiker“, der als angehender Pensionär jetzt noch mehr Zeit habe fürs Fernsehen. „Gysi-TV ist unvermeidbar.“

Ähnlich äußert sich Krawczyk, der im Januar 1988 verhaftet wurde und im darauf folgenden Monat gen Westen ausreiste. Er spricht von „offenen Wunden“. Die Schriftstellerin Ines Geipel stellt fest: „Als wichtiger Zeitzeuge eines großen historischen Prozesses hätte man von Gysis gern mal ein paar wirkliche Sätze gehört, nicht immer nur diese Strategielügen.“

„Kein Apologet des Systems“

Havemanns Sohn Florian sieht das anders. „Er war im Sinne unseres Vaters erfolgreich tätig“, sagt er. Havemann, der in der vorigen Legislaturperiode als Berater Gysis fungierte, bedauert sogar, dass dieser nicht erneut für den Fraktionsvorsitz kandidiert. Zugleich verweist er auf die „komplizierten Verhältnisse“, in denen sich Gysi vor 1989 bewegt habe. Er sei jedenfalls „kein Apologet des Systems gewesen“.

Allerdings gesteht der Autor anderen Bürgerrechtlern mit anderen Erfahrungen zu, zu abweichenden Urteilen zu kommen. Dies gelte für Lengsfeld und einst Bohley gleichermaßen.

Gysi, ein Schlitzohr

Florian Havemann saß Ende der 60er Jahre selbst in Haft und floh 1971 als junger Mann in den Westen. Wolf Biermann sang bei seinem Kölner Konzert 1976 über ihn: „Wer abhaut aus dem Osten, der ist auf unsere Kosten von sich selber abgehaun.“ Im Westen mache er den „linken Clown“. Es ist derselbe Biermann, der die Linke als Teilnachfolgerin der SED im vorigen November im Bundestag dafür attackierte, für das DDR-Unrecht verantwortlich zu sein.

Der Pfarrer Friedrich Schorlemmer schließlich attestierte Gysi in einem im Frühjahr erschienenen Buch Glaubwürdigkeit, nannte ihn indes ebenso – Freunde zitierend – „ein Schlitzohr“.

So oder so gilt: Mit Gysis Abgang endet ein Stück Nachwendegeschichte. Dass er den Zeitpunkt selbst bestimmen darf, empfinden seine Gegner gewiss als Niederlage. Auch wenn sie es nicht so sagen.