"Marsch für unser Leben" Washington: Hunderttausende Demonstranten für schärfere Waffengesetze erwartet

Washington - In den Stunden nach dem blutigen Massaker an seiner Schule hatte Cameron Kasky ein befremdliches Deja-vu-Erlebnis. Benommen verfolgte der 17-Jährige die Nachrichten und dachte plötzlich: „Das habe ich schon tausend Mal erlebt. Und es ist immer dasselbe.“ Mit einem Mal sei ihm klar gewesen, wie die öffentliche Debatte üblicherweise weitergehen würde, berichtete der Jugendliche am Dienstag bei einer Podiumsdiskussion an der Harvard-Universität: „Wir sind zwei Wochen in den Nachrichten, bekommen Gedenken und Gebete, und dann ist es vorbei.“ Plötzlich, so Kasky, sei ihm durch den Kopf geschossen: „Nein! Wir waren dabei. Wir werden unsere Geschichte erzählen.“
So wie Kasky ging es vielen Schülern der Marjory Stoneman Douglas High School in dem wohlhabenden Örtchen Parkland in Florida, die am Valentinstag miterleben mussten, wie 14 Klassenkameraden und drei Lehrer von einem 19-jährigen Amokläufer mit einem halbautomatischen Sturmgewehr erschossen wurden. „Wir wollen das stoppen. Wir müssen das stoppen“, rief die 18-jährige Emma Gonzalez kurz nach dem Attentat den Teilnehmern einer Kundgebung traurig und wütend zu.
Eine der eindrucksvollsten Kundgebungen seit den Studentenmärschen
Seither sind fünf Wochen vergangen, in denen die Jugendlichen eine beispiellose Kampagne zur Verschärfung der Waffengesetze in den USA angestoßen haben. Sie haben es nicht nur in Sneakers und Jeans mit dem Appell „Genug!“ auf das Titelblatt des aktuellen Time-Magazins geschafft. Überall im Land legten Schüler einen Monat nach dem Blutbad Gedenkminuten ein. Prominente Hollywoodstars haben zur Unterstützung weit über eine Million Dollar gespendet.
Erste Unternehmen streichen aus Imagegründen ihre Sonderrabatte für Mitglieder der Waffenlobby NRA. Und an diesem Samstag organisieren die Parkland-Aktivisten in der Hauptstadt Washington einen „Marsch für unser Leben“, bei dem wahrscheinlich mehr als hunderttausend Menschen aus dem ganzen Land am Weißen Haus und dem Trump-Hotel vorbei auf der Pennsylvania Avenue demonstrieren werden. Es könnte eine der eindrucksvollsten Protestkundgebungen seit den Studentenmärschen im Vietnam-Krieg in den späten 1960er Jahren werden.
Doch gewonnen ist der Kampf noch lange nicht. Auch nach den Massakern an der Columbine High School (1999), der Virginia Tech (2007) und der Sandy-Hook-Grundschule (2012) war das öffentliche Entsetzen in den USA groß. Die Vorstöße zur Verschärfung der laxen Waffengesetze versandeten aber bald. In keinem Land der Welt sind tödliche Schießereien in Schulen so alltäglich wie in Amerika. Nach einer Statistik der Washington Post sind seit Columbine mehr als 150.000 Jugendliche Augenzeugen von Gemetzeln in ihren Klassenräumen geworden.
Trump versprach erst entschlossenes Handeln – und rudert dann zurück
Trotzdem gilt in den USA das Recht zum Waffenbesitz als mindestens so heilig wie die tempolimitfreie Fahrt für freie Bürger auf deutschen Autobahnen. Republikanische Politiker, die sich mit der mächtigen Waffenlobby NRA anlegen, werden bei der nächsten Wahl rasch von einem finanzstarken rechten Gegenkandidaten verdrängt. Jede Verschärfung des Waffenrechts stößt zudem auf juristische Hindernisse, weil der zweite Verfassungszusatz aus dem Jahr 1791 das Recht auf den Besitz und das Tragen eines Schießeisens garantiert – auch wenn damals mit Sicherheit niemand an ein militärisches Sturmgewehr dachte, das sekundenschnell ein ganzes Magazin von Patronen leerfeuert.
Wenig überraschend ist Präsident Donald Trump, der nach dem Massaker von Parkland entschlossenes Handeln versprach, in kürzester Zeit zurückgerudert. Ein gerade vom Kongress beschlossenes Gesetz sieht lediglich die bessere Überprüfung von Waffenkäufern vor. Zudem sollen Lehrer zum vermeintlichen Schutz der Schüler aufgerüstet werden. Von einem Verbot halbautomatischer Waffen, wie es die Parkland-Schüler fordern, keine Spur. Nicht einmal das Mindestalter für den Erwerb von Gewehren will Trump entgegen ursprünglichen Ankündigungen von 18 auf 21 Jahre heraufsetzen. „Schämen Sie sich!“, hatte Emma Gonzalez ihm in weiser Voraussicht schon vor einem Monat zugerufen.
Jugendliche kontern die Propaganda der NRA
Doch während sich Trump einmal mehr bei der Waffenlobby anbiedert, scheint sich unter der Oberfläche der amerikanischen Gesellschaft etwas zu verändern. Bei einer Umfrage des Gallup-Instituts Anfang März fand die Forderung nach schärferen Waffengesetzen mit 67 Prozent eine so starke Unterstützung wie seit 1993 nicht mehr. Der Wert liegt inzwischen 20 Punkte höher als 2014. Und anders als bei früheren Protesten zeigt der Aufstand der Generation Instagram keine Ermüdungserscheinungen.
Frech und selbstbewusst kontern die Jugendlichen in den sozialen Medien die Propaganda der NRA. Am Dienstag musste ein republikanischer Anwärter für das Parlament von Maine auf Druck seiner eigenen Partei die Kandidatur zurückziehen, nachdem er Gonzalez als „Skinhead-Lesbe“ verunglimpft hatte. Und im konservativen „Gunshine-State“ Florida hat das Abgeordnetenhaus mit republikanischer Mehrheit tatsächlich eine Heraufsetzung des Mindestalters für Waffenkäufe auf 21 Jahre beschlossen.
Gemessen an den Forderungen der Jugendlichen sind das kleine Schritte. Aber etwas ist in Bewegung geraten. Bei den Kongresswahlen im November könnte sich die Veränderung politisch niederschlagen. Sicher ist das aber nicht. „Die Jugendlichen sind ungeduldig“, sagt der demokratische Senator Chris Murphy, ein überzeugter Anhänger schärferer Gesetze: „Aber sie müssen sich wie die Bürgerrechts- und die Anti-Vietnamkriegs-Bewegung auf einen langen Kampf einrichten.“