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Volkszählung in Indien Volkszählung in Indien: Die Frauen werden schlicht verschwiegen

Von Gabriele Venzky 15.02.2001, 19:54

Neu Delhi/MZ. - Die dünne, etwas ärmlich gekleidete Frau in ihrem Baumwollsari schiebt ihre Papiere zusammen und sagt abschließend: "Also neun Personen gehören zur Familie, ist das richtig?" Da tut sich die Tür auf, und ein halbwüchsiges, offensichtlich behindertes Mädchen an Krücken humpelt herein. "Und wer ist das?", fragt die Frau erstaunt. Verlegenheit auf den Gesichtern der Umstehenden, dann stottert der Vater: "Eh, das ist unsere Tochter." Musiktusch und eine Stimme aus dem Off: "Auch Behinderte sind Menschen, auch Frauen sind Menschen, auch sie gehören zu unserer Nation."

Kurz vor den Nachrichten sendet das indische Fernsehen seit Wochen unermüdlich diesen Spot, in Hindi, in Englisch, in Tamil und in Bengali. Denn in diesem Monat findet wieder das gigantischste bürokratische Unternehmen der Welt statt: Indien zählt seine Menschen. Fast zwei Millionen Volkszähler sind mit dicken Fragebögen unterwegs, um nun statistisch festzuhalten, was die Politiker herunterzuspielen suchen, aber die meisten Demographen mit großer Sorge beobachten: Indiens Bevölkerung wächst noch immer viel zu schnell.

Die erste Milliarde war Mitte vergangenen Jahres voll. Jetzt bereitet man sich auf weitere unangenehme Überraschungen vor. Denn bei der letzten Volkszählung hat sich herausgestellt, dass vor allem in den Dörfern auf die Frage nach den Kindern nur die Zahl der Söhne und auf die Frage nach den Familienmitgliedern nur die Zahl der männlichen Familienmitglieder angegeben wurden. Mädchen und Frauen waren, da als minderwertig angesehen, schlicht verschwiegen worden. Das Gleiche galt für die Behinderten. Darum nun der Spot: Versteckt sie nicht!

Doch ob das etwas nützt, ist fraglich. In einem Land, wo der weibliche Bevölkerungsanteil dramatisch sinkt, weil Mädchen erst gar nicht geboren oder gleich nach der Geburt getötet werden, weil Frauen unterversorgt und missachtet werden, weil sich an ihren Überlebenschancen aber auch nichts verbessert, wird auch diese Volkszählung zu keinen genauen Ergebnissen kommen. Allenfalls bei der Zahl der Toiletten und der Betten, die ebenfalls abgefragt werden.

Außerdem: In Kaschmir, wo schon im Januar gezählt wurde, weil man die Feuerpause in diesem Bürgerkriegsgebiet nutzen wollte, verweigerte die Bevölkerung die Zusammenarbeit mit den "Besatzern". In Gujarat, das seit dem Erdbeben vom 26. Januar nur noch ein Trümmerhaufen ist, wird man noch lange keine Menschen zählen können. Und dann ist da noch die Khumb Mela mit ihren 80 bis 100 Millionen Pilgern, die zum Bad im Heiligen Ganges gekommen sind. Auch ein großer Teil dieser Menschen wird durch das Raster fallen, obwohl selbst bei dieser größten Versammlung der Menschheit die Volkszähler unterwegs sind. Alle zehn Jahre, immer im Einser-Jahr, findet die Volkszählung statt. Nicht nur in Indien, sondern in allen ehemaligen britischen Kolonien.

In Indien, das als erstes Land der Erde eine gezielte Familienplanung hatte, ist die Bevölkerungspolitik ein absolutes Fiasko, weil die Politik sich nicht an das heiße Eisen der Bevölkerungsbegrenzung wagt. So werden jede Minute 33 Kinder geboren, 2000 pro Stunde, 48000 am Tag. Wenn das so weitergeht, wird Indien im Jahr 2051 1,646 Milliarden (doppelt so viele wie 1991) Einwohner haben. Schon heute ist jeder sechste Mensch auf der Erde ein Inder.