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Vier Jahre nach NSU-Zerschlagung Vier Jahre nach NSU-Zerschlagung: Deutschland blickt in den Abgrund der Fremdenfeindlichkeit

Von Christian Bommarius 03.11.2015, 15:49
Fremdenfeindlichkeit ist auch vier Jahre nach Zerschlagung des NSU ein Teil des gesellschaftlichen Alltags.
Fremdenfeindlichkeit ist auch vier Jahre nach Zerschlagung des NSU ein Teil des gesellschaftlichen Alltags. picture-alliance/ dpa Lizenz

Berlin - Vor vier Jahren, am 4. November 2011, ist bekanntgeworden, von welchem Prinzip sich die deutschen Sicherheitsbehörden bei der Fahndung nach den Mördern des nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) jahrelang hatten leiten lassen: Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Untersuchungsausschüsse des Bundestags und von sechs Landtagen haben seitdem festgestellt, dass die Mörder – sie sollen unter anderem neun Menschen mit Migrationshintergrund und eine Polizistin getötet haben – nicht nur aufgrund von Pleiten, Pech und Pannen 13 Jahre lang ungefährdet im Untergrund leben konnten, sondern diese Sicherheit „gezielter Sabotage“ (Thüringer NSU-Untersuchungsbericht) der Behörden zu verdanken hatten.

Die staatliche Duldung hat den Terroristen zwar einerseits eine in der Bundesrepublik beispiellose Mordserie ermöglicht, andererseits haben sie ein Ziel nicht erreicht: Der Anklage im NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und einige überlebende mutmaßliche Komplizen ist zu entnehmen, dass die Rechtsextremisten großen Wert darauf gelegt haben, dass ihre Verbrechen als Hinrichtungen wahrgenommen würden und sie deshalb Schalldämpfer verwendeten. Aber auch hier galt die Maxime der Sicherheitsbehörden: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Die Morde wurden immerhin bemerkt, aber von Hinrichtungen durch eine Nazi-Terror-Gruppe haben sich die Behörden jahrelang nichts träumen lassen.

Brutalität gegen Flüchtlinge

Was ist seitdem geschehen? Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz, des Landesamtes für Verfassungsschutz Sachsen und die Leiterin der Abteilung für Verfassungsschutz der Senatsverwaltung für Inneres in Berlin sind zurückgetreten oder entlassen worden. Darüber hinaus wurden die Untersuchungsausschüsse gebildet, der NSU-Prozess hat begonnen, Verwaltungsreformen wurden angekündigt – im Übrigen aber gilt noch immer das schändliche Prinzip, tun Polizei und Verfassungsschutz noch immer viel zu häufig so, als seien die Ausländer, die Flüchtlinge das Sicherheitsproblem der Republik, nicht aber deren potenzielle Mörder.

In diesem Jahr haben die Behörden rund 600 Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte registriert, davon seien 543 rechtsextrem motiviert. Kein Tag vergeht ohne Nachrichten von Angriffen auf Flüchtlinge, auf Politiker, auf Flüchtlingshelfer, auf Journalisten. Wie viele dieser Gewalttaten rechtsextrem motiviert sind, weiß kein Mensch, aber es sind gewiss mehr, als die Behörden behaupten.

Alles Einzelfälle

Vor einigen Wochen hat ein Staatsanwalt im Sauerland zwei Brandstifter, die in einem Flüchtlingsheim Feuer gelegt und das mit ihrer „Angst vor Flüchtlingen“ begründet hatten, mit der Begründung auf freien Fuß gesetzt, sie hätten aus „persönlicher“, nicht aus „politischer“, also fremdenfeindlicher Überzeugung gehandelt. Das bedeutet: Wer in Deutschland Ausländer ohne Hitler-Gruß zu ermorden versucht, bleibt mangels Xenophobie-Verdachts vorerst auf freiem Fuß. Als in diesem Sommer rechtsextreme Vorfälle in der Brandenburger Polizei bekanntwurden – ein Beamter war bei Neonazi-Aufmärschen mitmarschiert – beschwichtigte der Polizeipräsident, das seien Einzelfälle. Ist das beruhigend – insbesondere wenn sich herausstellt, dass diese Einzelfälle seit Jahren polizeiintern bekannt waren, aber niemals von Kollegen angezeigt worden sind?

Vier Jahre nach der Zerschlagung des NSU steht die Bundesrepublik vor einem Scherbenhaufen. Die mutmaßlichen Mörder sind tot oder in Haft, aber der Geist der Gewalt, den sie verbreitet haben, vagabundiert durch die Republik. Die Brutalität, der Flüchtlinge begegnen, eskaliert, die Gefahr, die Gewaltexzesse könnten explodieren, ist mit Händen zu greifen. Ob sie berechtigt ist? Der Verfassungsschutz müsste es wissen. Aber er tut, was er im Umgang mit Rechtsextremismus offenbar am Besten kann: Er schweigt.