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Tübingens syrischer Bademeister Tübingens syrischer Bademeister: Was heißt "Arschbombe" auf Arabisch?

Von Bernhard Honnigfort 22.08.2016, 09:59
Der syrische Bademeister eines Tübinger Freibads Aiham Shalghin ist eine kleine Sensation geworden.
Der syrische Bademeister eines Tübinger Freibads Aiham Shalghin ist eine kleine Sensation geworden. Honnigfort

Tübingen - Aiham Shalghin schlendet zu seinem Türmchen, seiner kleinen Aussichtplattform, vorbei an der Dusche, schwupp ein paar Stufen die Leiter hoch, dann ein paar Blicke in die Runde, über die Becken und die Wiesen, auf denen Mütter ihre Kinder abtrocknen und mit Obst versorgen, ein Blick auf die Rutsche, auch nichts los, dann wieder runter vom Türmchen. „Nicht viel los heute“, sagt er.

Was gut und ist und wieder nicht. Nur 70, vielleicht 80 oder 90 Leute im Tübinger Freibad. An sonnigen Wochenenden kommen 8.000 bis 10.000. Es könnten mehr sein, aber es ist ein bewölkter und extrem schwüler Freitagnachmittag. Und wer hat schon Lust zu baden, wenn es gleich losregnen könnte? Außerdem hätte Aiham Shalghin deutlich mehr zu tun, wenn deutlich mehr Leute gekommen wären. Er müsste aufpassen wie ein Luchs. „Macht nichts“, sagt er. Um halb zwei begann seine Schicht. Es wird ein ruhiger Nachmittag.

Syrischer Bademeister ist eine kleine Sensation

Seit Anfang Mai ist der 24-jährige Mann aus Damaskus Bademeister in Tübingens Freibad, Herr über Schwimmer und Nichtschwimmer, der Mann, der die Regeln kennt und durchsetzt - und mittlerweile ist er eine kleine Sensation. Anfangs war keinem in Tübingen so recht aufgefallen, welches mediale und politische Potential in der Geschichte des athletischen jungen Mannes steckt. Die Stadtwerke waren froh, ihn bekommen zu haben, einen Bademeister, der Arabisch spricht, Deutsch lernt und mit Wort und Trillerpfeife für deutsche Ordnung sorgen kann.

Eine Zufallsgeschichte war das, ein Treffen bei einer Veranstaltung der Industrie- und Handelskammer, die Tübinger Stadtwerke suchten gerade Bademeister. So fand man zusammen. Und dann hatte die Lokalzeitung im Sommer einfach mal den neuen Bademeister vorgestellt, so wie man das macht, wenn es einen neuen Bademeister in der Stadt gibt und es ist Sommer und sonst wenig los.

Auf Berichte von sexuellen Übergriffen in öffentlichen Bädern reagiert

Eine richtig große Sache hat dann der Oberbürgermeister aus der kleinen Geschichte gemacht. Aus seinem Bademeister formete er einen interkulturellen Ordnungshüter und Mittler, was daran liegt, dass Tübingens Rathauschef Boris Palmer jemand ist, der haargenau weiß, wie man so etwas - zur Not auch zum eigenen Vorteil - macht. Er las die kleine Geschichte und verwandelte sie in eine große, indem er auf Facebook in wenigen Zeilen den ganz großen Bogen spannte: „Die Berichte von sexuellen Übergriffen in öffentlichen Bädern gehören sicher zu den emotionalisierendsten überhaupt“, schrieb er. Und weiter: „Ich werde immer wieder gefragt, ob es in Tübingen auch solche Vorkommnisse gibt. Nein. Bisher nicht.“ Das solle auch so beiben. „Wir haben einen syrischen Bademeister , der auf Arabisch und mit Autorität sagen kann, was geht und was nicht. Danke Stadtwerke! Und gute Arbeit Aiham!“

So wurde Aiham zu einer einer Ikone gelungener Integrationspolitik

Das war schon alles. So wurde der junge Aiham über Nacht und zur andauernden Freude Palmers eine Ikone kluger und gelungener Integrationspolitik. Geradezu genial: Ein sympathischer Syrer, der auf Arabisch im grünen Tübingen für deutsche Ordnung sorgt. „Ich bin nicht der einzige Grund, warum es bei uns kaum Probleme gibt", sagt er zwar bescheiden. Es gibt ja auch noch die anderen Bademeister, die auf Schwäbisch für die Einhaltung deutscher Baderegeln sorgen. Aber seit Palmers Lob muss Herr Shalghin Interviews ohne Zahl geben, sich Journalisten erklären und Dokumentarfilmern und interessierten Studentenseminaren Rede und Antwort stehen, die ihn im Freibad aufsuchen und wissen wollen, wie er macht, was er den ganzen Tag macht. Und nebenbei muss er immer ein Auge aufs Treiben im Wasser und am Beckenrand haben, damit niemand während seiner Antworten untergeht.

Er und es sind aber auch zu Recht ein Thema, es ist ja schließlich einiges passiert, was nicht hätte passieren dürfen. Nach den Übergriffen durch Nordafrikaner bei der Kölner Sylvsterfeier, nach Vorfällen in Schwimmbädern, bei denen Mädchen und Frauen begrapscht wurden, ist nicht nur der wassersportliche Teil Deutschlands alarmiert. In Kirchheim in Baden-Württemberg wurden Wachmänner eingestellt, die sich genau angucken, wer ins Bad kommt. Auch in Hamm, Oldenburg und Reutlingen setzen die Bäder auf Sicherheitsdienste, Flüchtlinge wurden aus Schwimmhallen verwiesen. Die Stimmung ist einigermaßen geladen, es gibt auch Missverständnisse mit fatalem Aufgang wie in Erfurt, wo ein Flüchtling angezeigt wurde, nachdem er in die Damenumkleidekabine gegangen war. Er hatte das Schild nicht lesen können.

„Du darfst Dich wehren, wenn...“-Broschüren verteilt

Im Bodenseekreis hat man nun Kinder und Jugendliche, die in Bädern von wem auch immer betatscht werden, aufgefordert, sich zu wehren. Eine richtige Kampagne hat der Landkreis gestartet, es geht nicht in erster Linie um Flüchtlinge, die sich nicht zu benehmen wissen. Sexuelle Belästigungen seien schon immer ein Thema in Bädern gewesen, begründet Veronika Wäscher-Göggerle, die Kreis-Familienbeauftragte, die Aktion. Dort verteilt man nun Broschüren „Du darfst Dich wehren, wenn...“ und wer von den jungen Mädchen möchte, bekommt ein knallrotes Auklebetattoo für den Oberarm, zwei Flügel und dazwischen ein „No!“. Das soll abschrecken.

In Tübingen, 90.000 Einwohner, 1.500 Flüchltlinge, weiß man nicht so recht, was man von derlei Aktionen halten soll. Auch dort gibt es Flugblätter für Schwimmer, die des Deutschen und Schwäbischen nicht mächtig sind. In fünf Sprachen (Englisch, Französisch, Spanisch, Arabisch und Russisch) erfahren nun alle, dass Nichtschwimmer nicht ins Schwimmerbecken dürfen, Belästigungen jeglicher Art - „Gesten, Äußerungen, Berührungen“ nicht geduldet werden, dass vor dem Baden mit Seife geduscht werden muss und man nicht vom Beckenrand springen darf.

Mit Jeans ins Wasser gehüpft

Ansonsten klärt Herr Shalghin, was zu klären ist. Zur Not mit einem scharfen Pfiff der Trillerpfeife. „Das hört jeder sofort.“ Muss er tatsächlich einmal einschreiten, findet das meistens an der Rutsche statt, wenn drei Jungen auf einmal runtersausen und dann sich oder anderen unten weh tun. „So etwas, ja, das passiert manchmal“, sagt er. Wichtig, meint er, sei auch die Regel, dass man sich im Schwimmbeckenbereich nur in Badekleidung aufhalten dürfe. Das wüsste auch nicht jeder. Er hätte auch schon junge Syrer belehrt, die in Jeans ins Wasser hüpfen wollten.

Aber an diesem Freitagnachmitag hüpft niemand. Kein Schwab, kein Syrer. Es ist so wenig los, dass Shalghin nur hin und wieder einen Blick auf ein paar Rentnerinnen werfen muss, die still wie Treibgut im Becken dahingleiten. Er steht neben seinem Wachtürmchen und der Brause und hat also genug Zeit, darüber nachzudenken, was noch aus ihm werden soll. Ein paar Jugendliche, er kennt sie aus seinem vergangenen Deutschkurs, fragen ihn etwas. Er antwortet auf Arabisch und sie wissen nun, von wo sie ins Wasser springen dürfen und von wo nicht. „Von da, von hier nicht.“ Syrer, Afghanen, Araber, sagt er, kämen ins Bad. Ein Viertel, vielleicht ein Drittel von ihnen könne überhaupt nicht schwimmen, kein bisschen. So etwas müsse man wissen. Er weiß es aus Erfahrung.

In Damaskus gingen Männer und Frauen gemeinsam schwimmen

Da steht er nun, braungebrannt, Vollbart, kurze Hose, barfuß. Was war, ist vorbei, was wird, er weiß es noch nicht. Vor einem Jahr floh er aus Syrien. Er lebte mit seiner Familie in der Nähe von Damaskus, hatte Jura studiert, seinen Bachelor gemacht. Und nebenbei hatte er immer Wasserball gespielt und als Bademeister und Rettungsschwimmer gearbeitet. In einem Schwimmbad in Damaskus, in dem Männer und Frauen gemeinsam schwimmen gehen konnten. „Wie im Westen. Darmaskus. Auf dem Land war es immer etwas anderes.“ Er zuckt mit den Schultern und er lacht. Dann lacht er nicht mehr. „Ich hatte überhaupt keine Zukunft“, sagt er über seine Zeit dort. „Um uns Krieg. Was sollte ich tun?“

Also floh er wie so viele. Seine drei Schwestern und seine Eltern sind noch in Syrien. Er floh über die Türkei, im Schlauchboot rüber zur griechischen Insel Samos. Das Boot ging mit 45 Menschen unter, er trieb eine halbe Stunde im Meer, bis ein griechisches Polizeiboot sie aus dem Wasser zog. Alle überlebten. Dann ging es weiter über Mazedonien, Serbien, Ungarn, Österreich nach Deutschland.

Über die Balkanroute „zum Glück nach Deutschland“ gekommen

Die Balkanroute. Am Ende hätte es auch Schweden oder Norwegen werden können. Aber es wurde Deutschland, Stuttgart, Karlsruhe, Bruchsaal, schließlich Tübingen. „Zum Glück Deutschland“, sagt er. Von der alten Universitätsstadt Tübingen hat er nie zu vor etwas gehört. Er kannte die Bundesligastädte Dortmund und München und Stuttgart. Und aus Norwegen und Schweden kamen Geschichten die ihm gar nicht gefielen, Geschichten von endlosen Gegenden und schlimmen Wintern und ewiger Dunkelheit.
Ein Blick aufs Schwimmerbecken, nichts los. Eine ältere Frau braust sich ab, auf der Wiese Kinder, Gerenne, Ballspiel. Nein, er musste noch niemanden retten, nein, sexuelle Übergriffe und Belästigungen gab es auch noch nie, nein, noch nie sei etwas Schlimmes passiert.

„Ich will kein Geld vom Staat“

So weit, so gut. Und er selbst? Er würde gerne weiter Jura studieren. Aber Jura auf Deutsch, das ist dann doch ein etwas anderes Kaliber als einen ungestümen Jungen auf der Rutsche auf Deutsch zu ermahnen. Andererseits würde er auch gerne weiter Geld verdienen. „Ich will kein Geld vom Staat. Ich will arbeiten und auf eigenen Füßen stehen.“

Hin und her gerissen. Vielleicht bleibt er ja Bademeister, warum nicht. Er will es nicht ausschließen. Die Stadtwerke haben ihm im Frühjahr eine Mitarbeiterwohnung besorgt, so schlecht bezahlt ist der Job nicht. Sechs Tage die Woche, sieben Stunden lang. Festanstellung. Demnächst werden Schwimmkurse für Kinder und Jugendliche angeboten, darunter dürfen auch Flüchtlingskinder sein. Er wird gebraucht, die Kollegen mögen ihn. „Warum nicht“, sagt er. „Ich brauche noch etwas Zeit, muss nachdenken.“

Wörter wie Beckenrand, Sprungturm und Arschbombe

Nachdenken auch über sein altes Zuhause, über Damaskus, seine Familie dort, den nicht endenden Krieg. Er schüttelt den Kopf. „Das hat keine Zukunft“, sagt er über seine alte Heimat. „Man kann nichts machen.“

Er hat viel gelernt, er will weiter lernen. Er hat nette Kollegen. Wenn seine Schicht herum ist, erzählt er, dann bleibt er noch manchmal im Bad. Mit den Kollegen ein bisschen schwätzen. Wie der Tag war. Und Wörter üben, die im normalen Deutsch-Kursbuch für Flüchtlinge nicht vorkommen, aber für ihn wichtig sind. Wörter wie Beckenrand, Sprungturm und Arschbombe.