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Integration im Fußball SV Grana: Seit einem Foul ist nichts mehr, wie es war

Von Jan Sternberg 30.10.2019, 17:13
Der SV Blau-Weiß Grana steht hinter Momodou Jawara (weiße Mütze, Mitte).
Der SV Blau-Weiß Grana steht hinter Momodou Jawara (weiße Mütze, Mitte). RND

Grana - Am liebsten würde Momodou Jawara jetzt nach vorne stürmen. Kaum hält es den Zwei-Meter-Mann auf der Bank unter der Kastanie, hinter der altersschwachen Abgrenzung zum Fußballplatz von Blau-Weiß Grana. Stattdessen ruft er Anweisungen auf den Platz, an Paul, Essa und die anderen. Er ist lauter als der Trainer. Neben Momo belegt seine schwangere Freundin Sandra seelenruhig ein Butterbrot. Dann klingelt es wieder im Gehäuse von Profen II, sechsmal insgesamt an diesem Nachmittag.

Momo, wie sie ihn hier alle nennen, springt auf, schwingt sich auf die verbogene Stange der Platzumrandung, richtet sich zu ganzer Größe auf und wirft die Arme hoch. Das Team stürmt heran, die schwarzen Spieler immer vorneweg, rufen „Für Momo!“ und liegen sich in den Armen. Jawara achtet peinlich genau darauf, nicht über die Seitenlinie zu treten. Denn der Platz ist für ihn verboten. Der 29-Jährige ist gesperrt.

Vielleicht dauert seine Zwangspause drei Spiele, vielleicht das ganze Jahr

Seit dem dritten Spieltag kommt die Kreisliga zwei im Burgenlandkreis (Sachsen-Anhalt) nicht zur Ruhe. Weil eine Aktion Jawaras bei einem Pokalspiel auf dem Platz dazu führte, dass ein Gegenspieler mit dem Rettungshubschrauber ins Krankenhaus geflogen werden musste. Und weil danach alles aufbrach, was sich in der Liga an Vorurteilen und gegenseitigen Schuldzuweisungen angestaut hatte. Weil eine Mannschaft wie Blau-Weiß Grana, in der die Hälfte der Spieler aus dem Ausland kommt, etwas Unerhörtes ist in Sachsen-Anhalt. Und weil Grana jeden Angriff auf Jawara als Angriff auf das ganze Team wertet.

Grana hat wie kein anderer Verein in der Region seine Türen für Flüchtlinge und Migranten geöffnet. Eine Integration auf dem Sportplatz, die ohne politischen Überbau geschah, sondern aus Not, Zufall und vielleicht auch einer gewissen Naivität. Und die nun auf der Kippe steht, wie auch der Spielbetrieb im Burgenlandkreis.

Der Fußball und die Flüchtlinge – eigentlich ist es eine Erfolgsgeschichte. Als das Land ab 2015 zum Ziel für Hunderttausende Asylsuchende wurde, öffneten sich unzählige Vereine für Flüchtlinge. Vieles passte gut: Fußball, dieser globale Sport, funktioniert in Syrien genauso wie in Sachsen-Anhalt. Und er hilft bei der Integration. Wer im deutschen Vereinsleben angekommen ist, der hat es in Deutschland eigentlich geschafft.

Immer wieder Prügeleien auf dem Platz

Und doch ballten sich zuletzt die Negativschlagzeilen. Nicht alle Flüchtlinge benehmen sich gut, auch nicht auf dem Platz. Und in Deutschland hat sich neben die viel beschworene Willkommenskultur auch neuer Argwohn, Hass und Rassismus gestellt. Schlaglichter über Probleme häufen sich in den vergangenen Wochen. Im Ruhrgebiet prügelten Spieler des FC Hagenshof einen 26-jährigen Spieler von Viktoria Wehofen ins Krankenhaus – vermutlich, weil er schwarze Haut hat. Hagenshof muss 4000 Euro Geldstrafe zahlen.

Im Umland von Hannover zieht der TSV Burgdorf seine C-Jugend-Mannschaft zurück – sie war einmal ein Vorzeigeprojekt der Integration. Doch die Zwölf- bis 14-Jährigen prügelten bei einem Spiel gegen Lehrte enthemmt auf einen 13-Jährigen ein. Fast wöchentlich gibt es irgendwo in Deutschland Ähnliches zu berichten. Ist der Amateurfußball mit den Schattenseiten der Integration überfordert?

Granas Bürgermeister trat wegen Drohungen zurück

Blau-Weiß Grana besteht aus gerade einmal drei Mannschaften. Die 1. Herren, die 2. Herren und das Kinder- und Jugendteam. Bevor die Flüchtlinge kamen, war der Tag absehbar, da Grana kein Team mehr für die 1. Herren zusammenbekommen würde. Die Gegend ist von Bevölkerungsschwund und Überalterung so geplagt wie nur wenige andere in Deutschland. Geplagt ist sie auch von rechtsextremen Tendenzen: Im Nachbarort Tröglitz brannte 2015 ein Haus, das als Unterkunft für Geflüchtete vorgesehen war. Ortsbürgermeister Markus Nierth trat nach Drohungen zurück. Der verurteilte NSU-Terrorhelfer Ralf Wohlleben ist in die Gegend gezogen.

Der Fußball ist keine Blase, in der das alles keine Rolle spielt. Doch er lebt die Illusion, dass es auf und neben dem Platz nur um Tore, Punkte und Einsatz geht und alles andere keine Rolle spielt.

Grana integrierte neue Spieler in die erste Mannschaft

In Grana eröffnete 2015 eine Flüchtlingsunterkunft. Und bald tauchten die Neuen auf den drei Rasenplätzen von Blau-Weiß auf. Zunächst kickten sie „freizeitmäßig“, erzählt Johannes Heger, Kapitän der 1. Mannschaft. Dann spielte der erste Neue mit, bald der zweite. „Und dann haben wir entschieden: Wir öffnen uns vollständig.“ Grana gründete kein Flüchtlingsteam. Es wurde zur Hälfte zu einem.

Der einzige Satz, der erklären soll, warum sie das taten, kommt vom Vereinsvorsitzenden Björn Koch, einem agilen 34-jährigen Versicherungsvertreter. „Ich bin für Gleichberechtigung und die Einhaltung des deutschen Grundgesetzes.“ Eine Selbstverständlichkeit und dennoch große Worte hier am Rand der Rasenplätze. Aber wirkt das Grundgesetz im Kreisliga-Alltag?

Die Anwohner helfen den Flüchtlingen

In den Anfängen sah es so aus, als ob das Experiment gelingen könnte. Die Granaer kauften nicht nur Würstchen und Bier, sondern auch Hähnchen und Limo für die Grillabende, wegen der muslimischen Spieler. Sie kümmerten sich um Jobs und Sprachkurse. Mahdi aus Afghanistan arbeitet zum Beispiel als Platzwart, auf Ein-Euro-Basis.

Und sie haben ihren inoffiziellen Integrationsbeauftragten: Paul Beyai. Der 33-Jährige kommt aus Gambia wie Jawara, er arbeitet im nahen Zeitz und sagt, er fühlt sich hier wohl. Klar, manchmal reckten Leute ihre Arme aus den Autofenstern, zeigten den Stinkefinger, bepöbelten ihn. Er ignoriert das: „Für so was habe ich keine Zeit.“

Menschen wie Paul Beyai und Momodou Jawara brauchen ein dickes Fell und ein gesundes Selbstbewusstsein, um sich in Zeitz wohlzufühlen. Und jeder Treffer gegen Profen II, Löbitz oder Theißen trägt zu diesem Selbstbewusstsein bei.

So kam es zu Momos Sperre

Der Ärger begann in der zweiten Halbzeit des dritten Saisonspiels gegen Löbitz. Grana führte 4:1, der Ball befand sich in Höhe der Mittellinie. Von der einen Seite lief Momo auf ihn zu, von der anderen Seite Niklas Prater, 17 Jahre alt, Sohn des Löbitzer Vereinspräsidenten, in seinem ersten Spiel für die Herrenmannschaft. Es krachte. Praters Schien- und Wadenbein waren gebrochen. Der Rettungshubschrauber landete auf dem Spielfeld, der Junge wurde in die Uniklinik nach Jena geflogen, wo er mehrmals operiert werden musste. Inzwischen ist er aus dem Krankenhaus entlassen.

Die Schiedsrichterin hat den Vorfall nicht im Spielbericht vermerkt, es gab keine Karte gegen den Spieler Jawara. „Er hat das Bein ausgestreckt in Kniehöhe gehalten, um seinen Gegenspieler absichtlich zu verletzen“, steht in der Stellungnahme des VSG Löbitz 71 e. V., verfasst vom Vereinsvorsitzenden Frank Prater, Moritz' Vater.

Johannes Heger, Granas Kapitän und Vorstandsmitglied, widerspricht. Er stand wenige Meter daneben. „Beide Spieler haben gegen den Ball getreten, ein klassischer Pressschlag.“ Trainer Mario Schettig sieht es genauso: „Es tut uns unendlich leid für den Jungen, aber das war ein Pressschlag.“

Ab hier wird es wichtig, dass der als hart, aber technisch versiert beschriebene Spieler eben Momodou Jawara heißt, 29 Jahre, aus dem westafrikanischen Gambia via Italien nach Sachsen-Anhalt gekommen. Denn jedes Mal, wenn in dieser Geschichte der Satz fallen wird „Mit Rassismus hat das nichts zu tun“, wird es jemanden geben, der genau das anzweifelt.

Es gibt mehrere Opfer in dieser Geschichte

Bereits kurz nach dem Spiel brach eine Empörungswelle los. Der Spieler Jawara habe bereits mindestens drei Spieler in ähnlicher Weise absichtlich verletzt. So stand es im lokalen Sportteil – und so kursierte es in immer aufgeheizterer Version durch die sozialen Medien. „Brutalo Armutsasylant bricht vier jungen Fußballern grundlos Beine“ ist nur eine der Überschriften rechter Foren, die sich plötzlich in großer Zahl für die Kreisliga zwei des Burgenlandkreises interessieren.

Granas Verantwortliche weisen jede Schuld ihres Spielers zurück. Nie habe Absicht dahintergesteckt, bei einer der genannten Verletzungen sei der Gegenspieler selbst im Rasen hängen geblieben. Kreisliga-Alltag. Und auf keinen Fall stimme, was prominent in der Löbitzer Stellungnahme über die Reaktion nach Praters Verletzung steht: „Jawara lachte nur und gab undefinierbare Laute von sich.“

Familie Prater möchte nicht mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) sprechen, der Schock über die Verletzung von Moritz und die wochenlange Debatte um Jawara wirkt nach. Es gibt mehrere Opfer in dieser Geschichte, und viel Überforderung. Auch die Vereinsverantwortlichen des TSV Tröglitz möchten nicht mehr darüber sprechen, warum sie nicht gegen Grana angetreten sind, als Jawara wieder in der Startelf stand. Auch der SV Teuchern trat in der folgenden Woche nicht an. Die Spieler kamen nach Grana, sahen den Namen Jawara in der Aufstellung und drehten um.

Schwarze Spieler wurden beschimpft

Niemand wusste, wie es weitergehen sollte. Und es zeigte sich, dass eben nicht alles gut und harmlos war in den vergangenen Jahren: Björn Koch und die Granaer erinnerten an alles Unrecht, das ihnen widerfahren war: Beschimpfungen der schwarzen Spieler als „Brikett“ und des Vereins als „Schwarz-Weiß Ghana“. Schiedsrichter, die gedroht haben sollen: „Auf dem Platz wird Deutsch gesprochen, bei der ersten Zuwiderhandlung gibt es Gelb, bei der zweiten Rot!“ Und es gibt die anderen 13 Vereine der Liga, die Jawara vom Platz verbannen wollen, am liebsten lebenslänglich.

Das Sportgericht des Kreisfachverbands hat ihn kürzlich für ein Jahr gesperrt, wegen eines Tritts in den Rücken eines Löbitzer Spielers nach einem Platzverweis. Grana und der Landes-Fußballverband legten Berufung ein. Das Urteil torpedierte einen mühsam ausgehandelten Kompromiss zwischen den Vereinen, nach dem Jawara drei Spiele pausiert und dann wieder antritt. Das Verbands-Sportgericht muss nun entscheiden.

Ein Kompromiss, für den Paul Beyai seine ganze Autorität einsetzen musste, um ihn den anderen afrikanischen Spielern im Team zu vermitteln. „Zuerst fanden wir: Das ist ungerecht, das ist rassistisch, da machen wir nicht mit.“ Sie drohten ihrerseits mit Boykott. Ohne die Toregaranten aus Afrika aber ist Grana offensiv ziemlich aufgeschmissen. Schließlich gab Beyai die Lösung aus: „Es sind nur drei Spiele, und die spielen wir für Momo.“

Momo: „Grana ist in meinem Herzen“

An vergangenen Sonnabend stand Jawara gegen Osterfeld II wieder im Kader. Doch der Gegner reiste mit zu wenigen Spielern an, offiziell wegen Krankheit. Momo spielte wieder nicht. Vergangene Woche gab es noch einmal ein Treffen der Kapitäne aller Ligamannschaften. Sie haben vereinbart, direkt vor jedem Spiel über mögliche Probleme zu sprechen.

Auch mit der Mannschaft haben die vergangenen Wochen etwas gemacht. Es gibt nicht mehr „wir“ und „die“, sondern ein Team, das füreinander einsteht. Momodou Jawara sagt, er könne sofort auch bei anderen Teams mitspielen, in Leipzig, wo Sandra und er jetzt leben. Aber er will nicht. Er legt seine rechte Hand auf die linke Brust. „Grana ist in meinem Herzen“, sagt er. (RND)