Stasi-Unterlagen Stasi-Unterlagen: «Signal gegen Vergessen»

BERLIN/MZ. - Die Mehrheit war am Freitagim Bundestag äußerst komfortabel. Von 577gültigen Stimmen entfielen 535 auf RolandJahn, 21Parlamentarier sagten Nein, 21 enthieltensich. Damit ist der 57-jährige ARD-Journalistnach Joachim Gauck und Marianne Birthler dritterund vermutlich letzter Bundesbeauftragterfür die Unterlagen der Staatssicherheit.
Begonnen hatte alles im Herbst. Da gabes erste Spekulationen, wer auf Birthler folgenwird. Sie ist 63 und durfte nach zwei Amtszeitennicht nochmal antreten. Mehrere Namen wurdengehandelt, so der des CDU-Politikers GünterNooke oder des evangelischen OberkirchenratesDavid Gill. Doch rasch schälte sich Jahn alsFavorit heraus. Er schien nicht allein inder schwarz-gelben Koalition, sondern auchdarüber hinaus mehrheitsfähig.
Jahns Biografie spricht für sich. Der Vatereiner erwachsenen Tochter flog nach Protestengegen die Ausbürgerung des Liedermachers WolfBiermann in Jena von der Uni. 1982 kam erin Untersuchungshaft, weil er eine Fahne derverbotenen polnischen Gewerkschaft Solidarnoscan seinem Fahrrad angebracht hatte. 1983 gründeteder Hobby-Fußballer die oppositionelle "FriedensgemeinschaftJena" und wurde noch im selben Jahr gewaltsamsowie mit Billigung des Chefs der Staatssicherheit,Erich Mielke, abgeschoben. Jahn hielt auchdanach engen Kontakt zur DDR-Opposition, reistesogar einmal illegal wieder ins Land ein.
Bis jetzt leitet er noch die Redaktion desMagazins "Kontraste". Manche zweifeln, obJahn in der Lage ist, eine Behörde, in dermehr als 1500 Menschen beschäftigt sind undin der es allerlei interne Konflikte gibt,zu leiten, und ob er öffentliche Ausstrahlunggewinnt: Doch im Prinzip kommt mit Jahn undder Behörde zusammen, was zusammen gehört.
Entsprechend harmonisch verlief der Freitag. Auf der Tribüne fanden sich neben Gauckund Birthler der letzte DDR-AußenministerMarkus Meckel und der tschechische Ex-DissidentMilan Horacek ein. Sie herzten sich nach Kräften.Dann dankte Bundestagspräsident Norbert Lammert(CDU) der Amtsinhaberin. Sie habe sich "großeVerdienste" erworben. Der Plenarsaal war fastvoll und alle erhoben sich zum Applaus - mitAusnahme der Linksfraktion, in der sich keineHand rührte.
Die Szene war bewegend und Birthler bewegt.Als das Ergebnis für Jahn feststand, nahmer Blumen, eine Tüte Gummibärchen und vielewarme Worte entgegen und trat als Fernsehjournalisterstmals selbst vor die Kameras - als Objektder Begierde. "Heute ist ein Super-Tag fürmich", formulierte Jahn frei heraus. Angesichtsseines Lebenslaufes empfinde er seine Wahlals "persönliche Genugtuung.
Das ist ein Signal gegen das Vergessen." Mitprogrammatischen Aussagen hielt sich der Gewähltenoch zurück. Sein Motto: erst recherchieren,dann senden. Doch so viel machte er klar:Er verstehe sich als "Anwalt der Opfer", wolleaber "eine differenzierte Aufarbeitung allerDDR-Biografien - auch die der Täter". Denn:"Je besser wir begreifen, wie Diktatur inder DDR funktioniert hat, desto besser könnenwir Demokratie hier und heute gestalten."
Dabei sei die Linkspartei "besonders herausgefordert,an der Aufklärung der Diktatur mitzuarbeiten.Sie kann die Karten am besten auf den Tischlegen." Er stehe dafür, dass er nicht nurden Blick auf die Staatssicherheit richte,sagte er im Rundfunk. Auftraggeber der Stasisei schließlich die SED gewesen. Deshalb seheer auch die Linke als Nachfolgepartei derSED in einer besonderen Verantwortung, beider Aufklärung der DDR-Diktatur zu helfen."Mir ist es wichtig, dass man klar unterscheidetzwischen dem Gesamtsystem und den Instrumenten,die hier gewirkt haben. In dem Fall die Staatssicherheitals ,Schild und Schwert der Partei', so hatsie sich selber immer bezeichnet."
Für eine differenzierte Aufarbeitung derDDR-Geschichte brauche man die Akten und einBekenntnis zur Biographie, betonte Jahn: "Dasist genau das, was ich noch vermisse: Dassdie Täter sich wirklich zu ihrer Biographiebekennen und Verantwortung übernehmen. Verantwortungübernehmen für das, was sie den Menschen angetanhaben, was sie den Opfern von Repression mitdem System der Staatssicherheit angetan haben."
Indes unterstrich Jahn schon rein äußerlich,dass er auch im neuen Amt er selbst bleibenwill: Er verzichtete auf eine Krawatte undtrug das Hemd über der Hose. Die Mitarbeiterdürfen einen freundlichen und äußerst unprätentiösenChef erwarten. "Die Mannschaft muss es richten",tat er kund. "Ich bin ein Teamplayer."
Gauck jedenfalls flocht Jahn am Freitag einenKranz. "Ich habe noch keinen getroffen, derüber die Wahl von Roland Jahn betrübt wäre",sagte er der MZ. "Er ist ein besonderer Mann,der den Menschen gezeigt hat: Man muss sichnicht unbedingt anpassen, sondern man hateine Wahl. So ist er ein Oppositioneller gewordenund ein Vorbild für andere. Mit dem Mann wirdes keine Verniedlichung geben und keine Nostalgie."
Auf die Frage, ob Jahn der Aufgabe gewachsensei, sagte Gauck: "Das werden wir sehen. Fürden Beruf des Stasi-Unterlagen-Beauftragtengibt es kein Studium und keine Lehre. Dasmuss man sich erarbeiten."
