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Stasi-Akten Stasi-Akten: Schnipsel-Jagd am Rechner

Von ALEXANDER SCHIERHOLZ 01.10.2010, 11:55

Halle/MZ. - Und noch ein paar Klicks später fügen sich die Einzelteile auf einem zweiten Bildschirm zu einer vollständigen Seite zusammen. Fertig ist das rekonstruierte Blatt aus einer Stasi-Akte.

Was Jan Schneider vom Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik in Berlin da gerade vorgeführt hat, ist die Demo-Version für Besucher. Sonst macht der Computer alles automatisch. Das Sortieren und Zusammensetzen klein gerissener Stasi-Akten am Rechner - die Experten des Fraunhofer-Instituts und der Birthler-Behörde wissen jetzt, dass es funktioniert.

Jahrelang haben sie getüftelt an der "virtuellen Rekonstruktion", wie es im Behördendeutsch heißt. Die Herausforderung ist gewaltig: Im Herbst und Winter 1989 haben Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit in ihrem Vernichtungsfuror alle Unterlagen zerrissen, die ihnen zwischen die Finger kamen. Wichtiges und Unwichtiges - IM-Akten ebenso wie Telefonbücher oder leere Formulare. Die Schnipsel lagern in mehr als 15 000 Papiersäcken, der größte Teil in der Nähe von Magdeburg. Jeder Sack enthält rund 3 000 Blatt Papier. Bisher werden sie im fränkischen Zirndorf von Hand wieder zusammengesetzt. Bleibt es dabei, wird die Puzzelei noch knapp 600 Jahre dauern. Indiskutabel, befand der Bundestag und bewilligte sechs Millionen Euro für das Pilotprojekt der "virtuellen Rekonstruktion". Im April 2007 begann es.

15 000 Säcke. 3 000 Blatt pro Sack. Eine unvorstellbare Menge.

Eine winzige Ahnung davon, was das bedeutet, bekommt man in einem großen Raum in einem Bürogebäude auf dem verschachtelten Gelände der ehemaligen Stasi-Zentrale an der Berliner Normannenstraße. Dort befindet sich heute das Archiv der Birthler-Behörde. Olaf Sobolewski schlitzt vorsichtig einen Papiersack auf, Aktenschnipsel quellen ihm entgegen, liniert, kariert oder blank, in jedem Fall vergilbt. Mit Maschine oder von Hand beschrieben. Der Archivar arbeitet in der Feinsichtung und Vorsortierung. Rund ein Dutzend Mitarbeiter müssen entscheiden: Was ist wichtig aus den Säcken, was weniger wichtig? Was ist wichtig genug, am Rechner rekonstruiert zu werden? Soweit sich das aus den Schnipseln herauslesen lässt. Zurzeit beschäftigen sie sich mit den Resten von Akten der Stasi-Hauptabteilung XX - zuständig unter anderem für das Bespitzeln der Opposition, von Kirche, Kultur und Sport.

Sobolewski hat sich für das Projekt gemeldet, weil er über den Tellerrand schauen wollte. "Als Archivar ist man ja sonst Alleinunterhalter", witzelt er. Hier arbeitet er im Team. "Man bekommt einen anderen Blick auf die Dinge." Der 47-Jährige hält ein Papierstück hoch. Eine Ziffernkombination ist darauf zu lesen, eine Art Aktenzeichen. In diesem Fall deutet es darauf hin, dass das Papier auf höchster Leitungsebene umging. Das heißt: Es ist wichtig. "Wichtiger zumindest als die Kantinenabrechnung", sagt Joachim Häußler, Leiter des Pilotprojekts. Weil man bei der Birthler-Behörde davon ausgeht, dass der weit überwiegende Teil der Schnipsel in einem Sack zusammengehört, wird der ganze auf Sobolewskis Schreibtisch ausgebreitete Inhalt ein Fall für den Rechner.

Eigentlich sollte die Aktion Akten-Vernichtung ganz anders ablaufen. Wie, davon zeugen zwei Kunststoffsäcke tief im Keller des Archivs der Birthler-Behörde. Der eine enthält grauweiße Papierkügelchen, der andere ein bis zwei Millimeter schmale Papierstreifen - geschredderte Unterlagen. Die Papierkügelchen sind das Endprodukt der so genannten Verkollerung: Ganze Seiten steckten Stasi-Mitarbeiter in den Wende-Tagen in Papiermühlen. Unter Zugabe von Wasser entstand ein zäher Brei, übrig blieben jene Kügelchen. Doch was die Mühlen zu fressen bekamen, war schlicht zu viel: Irgendwann waren sie verstopft, erzählt Häußler. Auch der Versuch, Reißwölfe mit den Unterlagen zu füttern, schlug fehl - die Apparate liefen heiß. Was blieb, was das Zerreißen per Hand.

Das Resultat hat Robert Mehnert vor sich auf dem Schreibtisch. In der Vorsortierung beschäftigt sich der Fachangestellte für Bürokommunikation seit Ende März mit den Überresten von Akten aus der ehemaligen Stasi-Kreisdienststelle Eisleben, gesammelt ausnahmsweise nicht in Säcken, sondern in 59 großen Umzugskartons. Vorwiegend sind es Daten, die die Stasi über Bürger sammelte, die sie bespitzeln wollte. "Quasi die Vorstufe zur Beobachtung", sagt seine Teamleiterin Susan Pethe.

Mehnert fischt aus den Schnipseln gleich schichtenweise Papier heraus. Auf seinem Schreibtisch liegen mehrere Seiten übereinander, aneinander gesetzt aus jeweils nur vier Einzelteilen. "Da hat jemand gleich mehrere Blatt auf einmal zerrissen, so etwas erleichtert uns natürlich die Arbeit", sagt Pethe. Diese Unterlagen können von Hand wieder zusammengefügt werden. Generell aber gilt: Je kleiner die Schnipsel, desto größer ist die Chance, dass sie am Rechner rekonstruiert werden. Vorher müssen sie einen Scanner durchlaufen, der sie aufnimmt und so digitalisiert.

Bis zu dieser Technik war es ein weiter Weg. Bertram Nickolay sitzt in einem Besprechungsraum neben seinem Büro in Berlin-Charlottenburg. Der Ingenieur kann sich so begeistern für sein Projekt, dass er beim Erzählen einen roten Kopf und leuchtende Augen bekommt. Es geht um Papiertextur und fragiles Material, um Speichergrößen, Digitalisate und Cluster. Der 57-Jährige leitet die Abteilung Sicherheitstechnik im Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik. Er und seine Mitarbeiter haben sich die Sache mit dem Scanner ausgedacht.

Nickolay erzählt von den Anfängen und den Schwierigkeiten. Von einer Ausschreibung der Birthler-Behörde für eine erste Machbarkeitsstudie, die sein Institut gewann. Davon, dass sich herausstellte: Es gab keine Technik dafür, zerrissene Akten am Rechner wieder zusammenzusetzen. "Weil diese Aufgabe sich bisher nicht gestellt hatte." Also haben sie im Fraunhofer-Institut den Scanner selbst entwickelt, gemeinsam mit Spezialfirmen. Auf Laien wirkt er wie ein großes Kopiergerät.

Sind die Schnipsel gescannt, "beginnt das eigentliche Puzzeln", wie Projektleiter Joachim Häußler von der Birthler-Behörde sagt. Ein spezielles Computerprogramm, genannt "ePuzzler", sortiert die Aufnahmen der Schnipsel im Rechner nach Größe, Farbe, Beschriftung und Form der Risskanten. Nickolay gerät ins Schwärmen: "Das ist technologisch weltweit einmalig!"

Bisher ist auf diese Weise der Inhalt von rund 40 Säcken gescannt und digitalisiert worden. Jetzt ruht der Scanner: Das Computerprogramm soll überarbeitet werden, tauglich gemacht für den "Massenbetrieb", wie Nickolay es nennt. Bis Ende 2011 wollen die Entwickler fertig sein. Dann ist eine weitere Testphase geplant, ein halbes bis ein Jahr lang. An deren Ende, hofft Häußler, werde der Inhalt von 400 Säcken digital erfasst und am Rechner wieder zusammengesetzt sein. Rund 1,2 Millionen Blatt Papier. Und doch nur ein kleiner Teil des Schnipsel-Erbes.

Und dann? Es ist noch immer ein Experiment mit offenem Ausgang. "Ein wenig", sagt Andreas Petter von der Birthler-Behörde, "arbeiten wir nach dem Prinzip Versuch und Irrtum." Sie hoffen, dass der Bundestag sich nach dem Ende der Pilotphase für eine Fortsetzung entscheidet. Das Geld ist knapp, der Druck groß, weiß Bertram Nickolay vom Fraunhofer-Institut: "Ein Kriterium wird sein, ob unser System gut funktioniert."

So viel ist sicher: Die Rekonstruktion zerrissener Akten wird am Rechner schneller gehen als von Hand. Aber wie schnell, da mögen sie sich nicht festlegen in der Birthler-Behörde. Zeit ist dort ein relativer Begriff.