1. MZ.de
  2. >
  3. Deutschland & Welt
  4. >
  5. Politik
  6. >
  7. Spanien: Spanien: Fast 200 Tote bei Anschlägen auf Pendlerzüge in Madrid

Spanien Spanien: Fast 200 Tote bei Anschlägen auf Pendlerzüge in Madrid

11.03.2004, 08:30
Ein spanischer Polizist hilft einem blutüberströmten Jungen. (Foto: dpa)
Ein spanischer Polizist hilft einem blutüberströmten Jungen. (Foto: dpa) EFE/epa

Madrid/dpa. - Eine in Londonerscheinende arabischsprachige Zeitung teilte am Abend mit, sie habeein Bekennerschreiben des Terrornetzwerks El Kaida erhalten.

Die spanische Regierung nehme an, dass die baskischeUntergrundorganisation ETA für das Massaker verantwortlich gewesensei, sagte Minister Acebes. Allerdings sei auch nicht auszuschließen,dass islamische Terroristen das Blutbad angerichtet hätten. «DiePolizei ermittelt in alle Richtungen.» Die ETA sei die wichtigsteSpur, denn die Bomben hätten aus dem üblicherweise von der ETAbenutzten Sprengstoff bestanden. Außerdem habe die ETA zu Weihnachten2003 einen ähnlichen Anschlag auf Züge verüben wollen.

Der Chefredakteur der Zeitung «Al-Quds Al-Arabi» (London) sagtedem britischen Fernsehsender Sky News, die Bekennerbotschaft von ElKaida sei der Redaktion per E-Mail zugegangen. El Kaida bezeichneSpanien darin als eines der wichtigsten Mitglieder der «Allianz imKrieg gegen den Islam». Deshalb habe El Kaida nun in Madridzugeschlagen. Die spanische Regierung reagierte mit der Ankündigung,sie werde das angebliche Bekennerschreiben «genau und kritischprüfen».

Innenminister Acebes, der zunächst eine Verwicklung von El Kaidaoder anderer islamischer Gruppen ausgeschlossen hatte, korrigiertesich später. In der Stadt Alcalá de Henares östlich von Madrid seiein gestohlener Lieferwagen aufgespürt worden, in welchem siebenSprengstoff-Zünder und ein Tonband mit Koran-Versen in arabischerSprache gefunden worden seien, berichtete Acebes am Abend. Dasgefundene Tonband enthalte keine Drohung. Jedoch stehe derLieferwagen im Zusammenhang mit den Anschlägen.

Insgesamt waren im morgendlichen Berufsverkehr zehn Bomben fastzeitgleich in vier Pendlerzügen explodiert. Drei weitere, inReisetaschen versteckte Bomben waren Sprengfallen, die laut Acebeszeitverzögert explodieren und Polizisten und Retter treffen sollten.Sie wurden kontrolliert gesprengt. Insgesamt wurden für die Bombenfast 200 Kilogramm Sprengstoff benutzt. Eine vorherige Warnung gab esnicht.

Die spanische Regierung ordnete eine dreitägige Staatstrauer an.König Juan Carlos rief die Spanier zur Einheit im Kampf gegen denTerror auf. «Der Terrorismus wird seine Ziele niemals erreichen»,betonte der Monarch. Ministerpräsident José María Aznar sagte nacheiner Sitzung des Krisenkabinetts, der Staat werde sich vonTerroristen nicht in die Knie zwingen lassen. «Wir werden nichtvergessen ... wir werden die Terroristen voll und ganz besiegen.»Verhandlungen schloss er aus. Zugleich rief Aznar die Spanier auf, andiesem Freitag im ganzen Land gegen den Terror auf die Straße zugehen. Bereits am Donnerstag demonstrierten landesweit Zehntausendevon Menschen spontan gegen die ETA. Der Wahlkampf wurde ausgesetzt.

Der Chef der verbotenen ETA-nahen Baskenpartei Batasuna (Einheit),Arnaldo Otegi, wies die Verantwortung der ETA für den Anschlag zurückund sprach von einer «Operation des arabischen Widerstands».Vermutlich stünden islamistische Terroristen hinter den Attentaten.Dafür spreche auch, dass es keine telefonische Vorab-Warnung gegebenhabe, wie es sonst bei ETA-Anschlägen immer der Fall gewesen sei.

Terrorexperten waren sich nicht einig, auf wessen Konto dieAnschläge gehen. Der Kieler Sicherheitsexperte Joachim Krause vertratim Sender n-tv die Ansicht, «dass eine geschwächte, aberradikalisierte ETA» hinter den Anschlägen stecken könnte. Auch derLeiter des Essener Instituts für Terrorismusforschung undSicherheitspolitik, Rolf Tophoven, sieht wenig Zusammenhänge zwischenden Attacken und islamistischen Terrorgruppen. Dagegen schlossAnthony Gooch von der London School of Economics nicht aus, dass «ElKaida oder andere islamistische Gruppen die Hand im Spiel hatten».

Die Sprengsätze detonierten im morgendlichen Berufsverkehr imAbstand weniger Minuten zwischen 7.35 und 7.55 Uhr im Inneren derZüge. Der Bahnverkehr in Madrid und Teile des U-Bahn-Verkehrs wurdensicherheitshalber eingestellt, was zu einem Verkehrschaos führte.Betroffen von den Explosionen waren der Bahnhof Atocha - diewichtigste Station im Zentrum der spanischen Hauptstadt - sowie diebeiden kleineren Stationen Pozo del Tío Raimundo und Santa Eugenia.

In der spanischen Hauptstadt brach Panik aus, vor den Bahnhöfenspielten sich dramatische Szenen ab. Verletzte irrten blutüberströmtumher, Leichen wurden notdürftig mit Zeitungen zugedeckt. Überalllagen abgerissene Gliedmaßen. Zahlreiche Reisende waren eingeklemmt.Busse und Taxis brachten viele Opfer in Krankenhäuser. Die Totenwurden wegen überfüllter Leichenhäuser ins Messe- und Kongresszentrumaußerhalb Madrids gebracht. In dem Zentrum spielten sich dramatischeSzenen unter Angehörigen ab, die erst dort vom Tod ihrer Verwandtenerfuhren. Wegen der vielen Anrufe brach das Mobilfunknetz zusammen.

Die Anschläge wurden drei Tage vor der Parlamentswahl am Sonntagverübt, bei der Ministerpräsident Aznar (51) nicht wieder antritt.Als klarer Favorit geht der konservative frühere VizeregierungschefMariano Rajoy (48) ins Rennen. Sein Rivale ist der 43 Jahre alte Chefder Sozialisten (PSOE), José Luis Rodríguez Zapatero.

Führende Politiker in Europa reagierten entsetzt auf das Blutbad.Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) sieht in den Anschlägen eine«neue Qualität» des Terrorismus in Europa. Er bot Spanien Hilfe beider Aufklärung der Attentate an. Der EU-Ratspräsident, der irischeRegierungschef Bertie Ahern, sprach von einem «Anschlag auf dieDemokratie», der EU-Parlamentspräsident Pat Cox von einer«Kriegserklärung an die Demokratie». UN-Generalsekretär Kofi Annanzeigte sich «zutiefst geschockt über dieses sinnlose Morden». Der UN-Sicherheitsrat verurteilte die Anschläge als «Bedrohung des Friedensund der Sicherheit».

Erschöpfte Bergungskräfte schauen auf Opfer der Bombenattentate. (Foto: dpa)
Erschöpfte Bergungskräfte schauen auf Opfer der Bombenattentate. (Foto: dpa)
EFE
Ein verletzter junger Mann und eine verletzte Frau sitzen auf dem Banhof Atocha in Madrid. (Foto: dpa)
Ein verletzter junger Mann und eine verletzte Frau sitzen auf dem Banhof Atocha in Madrid. (Foto: dpa)
EFE/epa
Hier explodierten die Bomben (Grafik: dpa)
Hier explodierten die Bomben (Grafik: dpa)
dpa
Das Baskenland (Grafik: dpa)
Das Baskenland (Grafik: dpa)
dpa