Sigmar Gabriel zu Besuch im Flüchtlingsheim in Sachsen Sigmar Gabriel zu Besuch im Flüchtlingsheim in Sachsen: Flüchtlinge in Heidenau leben in Angst
Heidenau - Nur wenige hundert Meter trennen die Frau mit dem Fahrrad und den jungen Mann aus Afghanistan auf dem Parkplatz vor dem ehemaligen Praktiker-Baumarkt. Die freundliche Frau, die ihren Namen dann lieber doch nicht nennen möchte, wohnt in Heidenau, der am Wochenende durch ausländerfeindliche Krawalle zu fragwürdiger Berühmtheit gelangter sächsischen Kleinstadt. Der 20-jährige Hassan ist vorgestern mit dem Bus angekommen. Beide haben gehört, dass hier gleich irgendein Politiker vorfahren soll.
„Sie hätten mal am Wochenende kommen sollen“, sagt die Frau zu den wartenden Journalisten, „da war hier was los!“ Nein, sie hat nichts gegen Ausländer. Aber hier in der provisorischen Flüchtlingsunterkunft? „Ich bin dagegen, dass so viele Kerle kommen“, sagt sie. Schließlich ist das Gymnasium nicht weit entfernt: „Es könnte sein, dass sie sich an die jungen Mädchen heranmachen.“
Deswegen hat sie in der Nacht zum Samstag hier gestanden, bis die Straßenschlacht der NPD-Anhänger mit der Polizei zu wild wurde: „Als die Wasserwerfer kamen, wurde mir himmelangst.“
„Ich dachte, die Menschen hier sind gut“
Angst empfand auch Hassan, als er wenige Stunden später mit dem Bus von der stark befahrenen S172 zu dem ehemaligen Baumarkt einbog. „Wir hörten, was sich am Tag davor ereignet hat“, berichtet er in stockendem Englisch. „Deswegen haben wir dem Busfahrer gesagt: Bring uns zurück nach Chemnitz. Aber die Polizei sagte, alles sei sicher.“ Kurz darauf flogen vor dem mit weißer Bauplane verhängten Zaun um die Notunterkunft wieder Steine, Flaschen und Feuerwerkskörper.
Verstehen kann Hassan das alles nicht. „Ich dachte, die Menschen hier sind gut“, sagt er. Sein Freund Mohammed trägt ein blaues T-Shirt. Darauf steht „Deutschlang“ – mit „G“. Es ist nicht der einzige Irrtum der Flüchtlinge.
Zwei Welten. Und keine Brücke dazwischen. Kurz darauf rollt Sigmar Gabriel an. Der Vizekanzler will auf seiner Sommerreise eigentlich das „Silicon Saxony“ besuchen, die Zusammenballung von High-Tech-Firmen im deutschen Osten. Doch nach den fremdenfeindlichen Ausschreitungen vom Wochenende hat er sein Programm geändert. Nun überlagern plötzlich die dumpfdeutschen Parolen des pöbelnden Mobs die Zukunftsvisionen der Chip-Fabriken, und der SPD-Chef will mit dem Besuch der Flüchtlingsunterkunft ein Zeichen setzen. „Keinen Millimeter“ dürfe die Zivilgesellschaft den braunen Ausländerfeinden einräumen, fordert er: „Das ist Pack, das sich hier zusammengefunden hat.“
Ein deprimierendes Bild
Drinnen, in der leergeräumten Halle des früheren Baumarkts, bietet sich Gabriel ein deprimierendes Bild. Rund 70 Frauen, Männer und Kinder sind bislang auf der oberen Etage untergebracht. Aus aller Herren Länder kommen sie – Syrien, Jemen, Afghanistan, Nordafrika. Schon bald sollen es bis zu 600 werden. Die Luft ist stickig und heiß. Die Feldbetten stehen dicht an dicht. Ein paar eilig aufgehängte Laken dienen als Sichtschutz zwischen dem Männer- und dem Frauen-Schlafbereich. Eine kleine Ecke mit einem bunten Teppich dient den Kindern als Spielplatz.
Gleich am Eingang befinden sich ein Dutzend Steckdosen. Dort drängen sich die Männer, um ihre Handys aufzuladen. Unten im Parterre hat das Deutsche Rote Kreuz Sanitärcontainer aufgestellt. Acht Duschen gibt es nun für die Flüchtlinge. Die meisten stehen oder sitzen irgendwo in der kahlen, großen Halle zusammen. Einige dösen auf dem Bett. Was soll man auch sonst hier machen? Wie ein zynischer Kommentar hängt ein altes Praktiker-Werbeplakat an der Wand: „Einfacher geht’s nicht. 3 Preisklassen. Für jeden das richtige Produkt.“
„Wie geht es weiter?“
Seit einem Jahr sei er jetzt unterwegs, berichtet ein junger Mann aus dem Jemen dem Vizekanzler. In seiner Heimat habe er als Programmierer beim EDV-Konzern Oracle gearbeitet. 5000 Dollar habe ihn die Flucht gekostet, in Tschechien habe er zwei Monate im Gefängnis gesessen und sei ausgeraubt worden. Der Mann ist in seinem Redefluss kaum zu bremsen. Auch andere wollen ihre Geschichte loswerden. Einen Monat seien sie nun schon in Deutschland und hätten immer noch keinen Termin für eine medizinische Untersuchung bekommen, klagen einige. Vor allem aber eine Frage brennt allen unter den Nägeln: „Wie geht es weiter?“
Das kann auch Gabriel nicht sagen. So ein Verfahren dauere im Moment durchaus fünf Monate, berichtet er. Die Behörden versuchten, schneller zu werden. Aber große Hoffnungen könne er nicht machen. „Stellen Sie sich vor: Vor ein paar Jahren hatten wir 40.000 Flüchtlinge im Jahr. Jetzt werden es plötzlich 800.000 werden“, wirbt er mehrfach um Verständnis. Auf den Mienen der Zuhörer zeichnet sich eine Mischung aus ungläubigem Staunen und Bedrückung ab.
Das also ist Deutschland, die Endstation einer langen, gefahrenvollen Reise? Durch die großen Fenster der Lagerhalle dringt Tageslicht herein. Doch von dem hübsch im Elbtal gelegenen Örtchen Heidenau können die Flüchtlinge nichts sehen. Und nach den Krawallen vom Wochenende trauen sich auch nur wenige hinaus. Dabei liegt der große Real-Einkaufsmarkt gleich auf der anderen Straßenseite. Und keine zehn Minuten Fußmarsch wären es bis zur Innenstadt, wo es tatsächlich ein China-Restaurant Shanghai und eine Döner-Bude gibt.
Deutliche Worte von Bürgermeister Opitz
Aber hinter der Fassade fühlt man in der 16.000-Einwohner-Stadt im Süden Dresdens offenbar sehr deutsch. Die braunen Demonstranten vom Wochenende seien keineswegs nur von außen angereist, berichtet der CDU-Bürgermeister Jürgen Opitz: „Ich kenne diese Leute.“ Einige von ihnen seien seit Monaten in die Stadtratssitzungen gekommen und hätten provozierende Fragen gestellt. Dahinter stecke meist die NPD.
Auf der anderen Seite, konstatiert Opitz nachdenklich, sei es der Politik offenbar nicht gelungen, Fremde als Bereicherung und ihre Not als Herausforderung für eine reiche Gesellschaft zu vermitteln – nicht nur am Rande der sächsischen Schweiz, aber hier besonders: „Die Menschen hier können sich überhaupt nicht vorstellen, wie man in Duisburg leben kann. Und wenn sie nach Berlin fahren, kriegen sie einen Kulturschock.“ Jetzt ist der Bürgermeister in Fahrt: „Es wird so getan, als bestünde die Chance, dass Heidenau nur aus blauäugigen, blonden Deutschen mit sächsischem Akzent besteht.“
Opitz ist ein bemerkenswerter Mann. Seit zweieinhalb Jahren leitet er das ansehnliche hundertjährige Rathaus mit dem roten Türmchen und den Geranien vor dem Fenster. Der 59-Jährige ist selbst ein Zugezogener. In den 1970er Jahren kam er aus dem brandenburgischen Kyritz nach Sachsen. Nach den Ausschreitungen ist er nicht abgetaucht oder hat versucht, irgendetwas zu beschönigen. Im Gegenteil: Mit deutlichen Worten hat er sich vom braunen Mob distanziert und muss nun selbst Beschimpfungen als „Volksverräter“ über sich ergehen lassen.
Schon am frühen Morgen vor Gabriels Besuch hat er im Deutschlandfunk gesagt, dass er sich davon nicht einschüchtern lasse. Nun wird er von einem Dutzend Kamerateams umringt und berichtet erfreut, er habe in der vergangenen Stunde mindestens 20 positive Reaktionen auf sein Interview bekommen. Am Donnerstag steht die turnusmäßige Stadtratssitzung an. Eigentlich geht es um den Neubau eines Einkaufszentrums und den Umbau der Christuskirche. Doch Opitz will die Vorkommnisse um die Flüchtlingsunterkunft ganz oben auf die Tagesordnung setzen.
„Das gibt Kraft“
Ungefragt beantwortet der mutige Kommunalpolitiker auch die Frage, ob die Besuche von Spitzenpolitikern aus Berlin in dieser Situation helfen oder eher der eigenen Profilbildung dienen. Natürlich, sehr viel Neues hat er an diesem Tag nicht von Gabriel erfahren, der mehr Finanzhilfen für die Gemeinden forderte und davor warnte, die Asylbewerber und die Wohnbevölkerung gegeneinander auszuspielen.
Aber wichtig war ihm die Visite doch. Nicht nur konnte er dem Vizekanzler die Nöte vor Ort plastisch schildern. Vor allem betrachtet er den Besuch aus Berlin als Zeichen der Solidarität: „Das gibt Kraft.“
Umso deutlicher fällt auf, dass Gabriels Chefin, die Kanzlerin, bislang noch keine Flüchtlingsunterkunft besucht hat und sich auch in ihren Stellungnahmen merkwürdig windet. Am Mittwoch hätte sie Gelegenheit, das Versäumnis nachzuholen. Da spricht sie beim Festakt zur Einweihung des Neubaus der renommierten Uhrenmanufaktur in Glashütte bei – ein Aushängeschild Sachsens. Nur 16 Kilometer entfernt liegt der Praktiker-Baumarkt in Heidenau, der zu einem Schandfleck geworden ist. „Nachdem nun Sigmar Gabriel da war, hoffe ich morgen oder übermorgen auch Angela Merkel begrüßen zu können“, sagt Opitz. Immerhin ist sie seine Parteivorsitzende.