Im Einsatz mit Frontex Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer: Im Einsatz mit Frontex: "Sollen wir sie ertrinken lassen?"

Catania - Der Spätherbst in diesem Jahr ist typisch für Sizilien. Unwetterartige Güsse, Nieselregen, stürmische Böen und windstille sonnige Tage wechseln einander ab. „Früher waren die stürmischen Tage die ruhigsten“, sagt Paul Erik Teigen.
Der stämmige Mann ist Norweger, hat als Polizist in einem Städtchen nördlich der Hauptstadt Oslo gearbeitet und dort als Einsatzleiter seines Reviers meist Rettungseinsätze bei Verkehrsunfällen koordiniert. Bis er seinen Job eintauschte, zur europäischen Grenzschutzagentur Frontex wechselte und Kommandeur der „Siem Pilot“ wurde, eines von Norwegen gecharterten Versorgungsschiffes.
Der 50-Jährige meint nicht das Wetter. Er kennt die Stürme auf dem Mittelmeer, die mitunter zehn Meter hohen Wellen und die Gischt, die in wuchtigen Schlägen über Brücke und Deck des 88 Meter langen Schiffes fegt. „Vor einem Jahr waren diese Tage ruhig, weil keine Flüchtlingsboote von Nordafrika aus in Richtung Europa aufbrachen“, erzählt er.
Frontex-Einheiten oft die letzte Rettung
Das Meer ist bei solchem Wetter unberechenbar, und die Boote sind klein, marode, schlecht ausgerüstet und immer überladen. Doch seit einigen Monaten ist das anders. Das Wetter schreckt sie nicht mehr ab – nicht die Flüchtlinge und nicht die Schlepper. Für etwa 3.000 Euro wird die Überfahrt verhökert, auf Booten, die diese Bezeichnung nicht verdienen. „Noch vor zwei Jahren waren es ausgediente Fischerboote“, erzählt Teigen. „Einigermaßen stabil und seetauglich.“
Nachdem die Flüchtlinge europäischen Boden betreten haben, werden sie registriert und können einen Asylantrag stellen. Danach werden sie in ein Umverteilungsprogramm der EU eingegliedert. Das wurde im September 2015 beschlossen.
Bis zum Herbst 2017 sollen demnach 160.000 Migranten, die in Italien und Griechenland gestrandet sind, auf die EU verteilt werden. Deutschland wollte 27.500 von ihnen aufnehmen, bisher sind es höchstens 500 pro Monat.
Das Programm läuft schleppend, weil sich osteuropäische Staaten weigern, Flüchtlinge zu akzeptieren, und westeuropäische Staaten zu wenige freie Kapazitäten melden. Daher konnten bisher nur etwa 1.650 Asylbewerber aus Italien verteilt werden. Erwartet werden dort in diesem Jahr allerdings 170.000 Migranten. (rwo)
Heute würden billige, aus minderwertigem Material zusammengeklebte Schlauchboote in See stechen, die meist schon wenige Seemeilen abseits der Küste den Wellen nicht mehr Stand hielten, berichtet er. „Die Luftkammern reißen auf, und die Boote schlagen leck.“ Manchmal geraten mehr als 150 Menschen auf nur einem solcher gerade einmal 15 Meter langen Boote in Seenot. In diesen Momenten sind die Männer und Frauen der Frontex-Einheiten oft die einzige und letzte Rettung.
Was früher Ausnahmezustand war, ist heute Normalfall. Fast 170.000 Menschen sind in diesem Jahr schon aus Afrika in Italien angekommen. Und die Flut der Menschen, die ihr Heil in Europa suchen wollen, reißt nicht ab. UN und nichtregierungsnahe Flüchtlingsorganisationen schätzen, dass etwa 300.000 Menschen noch auf eine Überfahrt warten. Sie campen an der libyschen Küste in Gebieten, die von Milizen kontrolliert werden und nicht unter staatlichem Einfluss stehen. „Dort macht jeder sein Geschäft mit den Flüchtlingen“, weiß Rune Frekhaug. Er ist norwegischer Marineoffizier und Teigens Kollege.
„Wer vor Islamisten wie Boko Haram aus Westafrika flieht, ist bereit, alles zu geben, bis auf sein Leben.“ Die Menschen – meist Nigerianer, Sudanesen, aber auch Eritreer und Liberianer – kratzen das letzte bisschen Geld zusammen oder verschulden sich für die Überfahrt. Und werden nicht selten bei schlechtem Wetter in die Boote geprügelt, damit die Schlepper ihre Pläne einhalten.
„Mischung aus Treibstoff, Salzwasser und Sonne verätzt die Haut“
Vor Libyen, eine halbe Tagesreise vom Stationierungshafen Catania entfernt, ist auch das Einsatzgebiet der „Siem Pilot“, die im Rahmen der Frontex-Mission „Triton“ unterwegs ist. Oft ist sie dann das erste Stückchen Europa, das die Flüchtlinge betreten. Besser gesagt – auf das sie gerettet werden. Das gewaltige Schiff hat einen speziellen Aufbau, die Brücke thront auf dem Vorschiff, dafür bietet das Heck eine fast 1.000 qm große Fläche.
Dort wird die Erstversorgung und Registrierung der Flüchtlinge vorgenommen. Wenn es die ausgezehrten Menschen bis dahin schaffen. Bis Mitte November 2016 starben laut UN-Angaben schon 4.655 Menschen. Im ganzen Jahr 2015 waren es „nur“ 3.771. „Wir bergen aus jedem aufgebrachten Boot Leichen“, berichtet der Norweger.
Es seien oft Frauen und Kinder, die die Strapazen der Überfahrt nicht überlebten. Die, die überleben, seien dehydriert und ausgehungert. Oft zeichnen großflächige Wunden, die massiven Verbrennungen ähneln, die Körper. „Die Mischung aus Treibstoff, Salzwasser und Sonne verätzt die Haut. Es sieht entsetzlich aus.“
Auch die Bergung von den schwankenden Seelenverkäufern ist kompliziert. Menschen, die über Tage diszipliniert und getrieben vom Willen zu überleben auf den Booten ausharren, verfallen bei Ankunft der Retter in Panik. „Viele springen von Bord und schwimmen auf unsere Beiboote zu“, schildert Teigen solche Einsätze. Es koste viel Geduld und energisches Zureden, die Erschöpften zum Bleiben auf den Booten zu bewegen, um sie dann koordiniert zu bergen.
Nach der Rettung folgen oft Rettung folgen oft Depressionen
An Bord werden sofort Männer von Frauen und Kindern getrennt. Wasserflaschen und Dauerkekse werden verteilt, die Kranken oder Verletzten erstversorgt. Vier Mediziner an Bord kümmern sich und helfen, wie erst vor wenigen Wochen geschehen, sogar bei Geburten. DNA-Proben und Fingerabdrücke werden genommen, um eine durchgängige Registrierung zu gewährleisten. „Natürlich werden auch alle zuvor nach Waffen durchsucht“, erklärt Teigen das Prozedere. „Oft haben aber nur die Frauen ein Messer oder Ähnliches dabei, um sich auf dem Boot gegen Übergriffe wehren zu können. Das geben sie immer gleich freiwillig ab.“
Es gibt Einsätze, da drängen sich am Ende des Tages fast 1.000 Menschen auf dem Achterdeck des riesigen Versorgungsschiffes. Die Anspannung fällt ab von den Menschen. Viele realisieren erst langsam, was gerade mit ihnen geschieht. Doch der Euphorie der Rettung folgen oft Depressionen oder gar Aggressionen. Die „Siem Pilot“ ist auf größere Revolten an Bord nicht vorbereitet. Zwar werden die Flüchtlinge ständig von Besatzungsmitgliedern bewacht und beobachtet.
Doch bis auf wenige automatische Gewehre, einige Schutzschilde und Gummiknüppel sind keine Waffen an Bord. Aber die Norweger an Bord sind trickreich. Als sich einmal Unruhe auf Deck breit machte, weil sich Menschen begannen zu streiten, spielte die Fitnesstrainerin der „Siem Pilot“ Musik über Lautsprecheranlage ein und brachte die Menschen dazu, mitzusingen und zu tanzen.
Den Vorwurf, den Schleppern mit ihren Rettungsaktionen in die Hände zu arbeiten, lässt Teigen nicht gelten. „Wenn wir informiert werden, dass da ein überladenes Flüchtlingsboot auf See unterwegs ist, fahren wir los. Sollen wir sie denn ertrinken lassen?“, sagt er knapp. Außerdem leiste seine Besatzung auch echte Polizeiarbeit dabei: Während jeder Bergungsaktion werden akribisch Film und Fotoaufnahmen gemacht.
Hunderte Schlepper kommen ungeschoren davon
Meist findet sich beim Sichten des Materials ein Hinweis darauf, dass der Schlepper selbst mit an Bord war. Teigen holt ein Foto hervor und deuten auf eine Person. „Schauen Sie diesen Mann hier an, er versucht gerade, ein Satellitentelefon zu verstecken.“ Nach Befragungen unter den Asylsuchenden bestätigte sich der Verdacht, einen Schlepper im Netz zu haben. Es war einer von den etwa 60, die in diesem Jahr schon in Italien verurteilt wurden. Aber eben nur einer, während Hunderte ungeschoren davonkommen.
Teigen wird zum Jahresende seinen Einsatz auf der „Siem Pilot“ beenden. Der Rhythmus des Einsatzjahres - von vier Wochen Dienst, abgelöst von vier Wochen Freizeit zu Hause in Norwegen - klingt aus. Der Polizeioffizier ist mit einer Polizistin verheiratet, die, wie er sagt „Verständnis hat für das, was ich hier tue“. Und er müsse ihr manches auch nicht lange und ausführlich erklären. „Sie ist Polizistin, sie kann sich viele der entsetzlichen Dinge vorstellen.“
Warum er sich für den Dienst bei Frontex entschieden habe? Paul Erik Teigen zieht ein Foto hervor. Die Aufnahme zeigt ein eritreisches Mädchen. Es lacht, hält ihren Bruder an der Hand. Es ist ein wenig Fröhlichkeit in all dem Elend. „Dafür machst du das. Und du würdest es wieder tun.“ (mz)