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Restriktionen und Schikanen der DDR umgehen Restriktionen und Schikanen der DDR umgehen: Kleine Löcher in der Mauer

Von Margit Boeckh 07.11.2014, 15:46
Heimliches Treffen in Ost-Berlin: Die Autorin Margit Boeckh (links) mit ihrer Regensburger Nichte, Oktober 1969.
Heimliches Treffen in Ost-Berlin: Die Autorin Margit Boeckh (links) mit ihrer Regensburger Nichte, Oktober 1969. Privat Lizenz

Halle (Saale)/Berlin - Dieser Tage habe ich wieder ein Stück Gelbwurst erwischt. Und dabei wohl unwillkürlich so freudig gelächelt, dass mir die Verkäuferin zu dem kleinen Päckchen noch einen ziemlich verdutzten Blick über die Theke mitgegeben hat. Ist ja auch nur einfach Wurst für sie. Davon haben sie in ihrem Supermarkt schließlich jede Menge. Diese spezielle Sorte allerdings nur sehr selten. Dass sie mir da eben geradewegs ein Stück Heimat über den Tresen gereicht hat, kann sie ja nicht ahnen. Denn noch immer, nach all den Jahren, habe ich es, dieses Heimatgefühl. Freue mich kindisch, wenn ich irgendwo Äppelwoi entdecke oder Kräuter für die berühmte grüne Soße, Leibgericht von Landsmann Goethe. Lasse ohne Groll Autos mit dem „F“-Kennzeichen überholen und spitze die Ohren, wird irgendwo auf gut Frankforderisch gebabbelt.

Dieser Text gehört zu einer Sonderausgabe, die die Mitteldeutsche Zeitung zum 25-jährigen Jubiläum des Mauerfalls am 9. November veröffentlicht. Übrigens die erste Sonntagsausgabe in der Geschichte der MZ. Abonnenten finden die Sonderausgabe mit Reportagen, Analysen, Porträts und Interviews am Sonntag in ihrem Briefkasten.

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Ja, klar, es ist sentimental, scheint belanglos und man kann es gerne belächeln. Doch es ist mir immer noch eine Herzenssache. Die Stadt, in der ich geboren bin, in der ich die wenigste Zeit meines Lebens verbringen konnte, ist mir immer ganz nah geblieben. Obwohl oder gerade weil sie so lange unerreichbar schien. Es ist nur eine ganz persönliche Geschichte. Nichts für die Schlagzeilen. Es geht nicht um Widerstand oder Untergrund, Einkerkerung und Schießbefehl. Diese Geschichte ist eine von den beiläufigen, im stillen Schatten der Mauer. Die es noch gar nicht gab Ende der 50er-Jahre. Als Halbwaise hatte es mich damals hier her verschlagen. Nur für kurze Zeit – eigentlich. In Obhut einer entfernten Verwandten, der einzigen im Osten, sollte ich bleiben, bis mein verwitweter Vater wieder für mich sorgen könnte. Dann dürfte ich wieder zurück, heim nach Frankfurt am Main.

Aus mit der Ausreise. Nichts mit Heimfahrt.

Doch dazwischen kam die Mauer. Zurück in den Westen wolle ich? Doch wohl besser erst mal Abi machen, hieß es auf dem Amt. Dann würde man sehen. Beim nächsten Antrag war ich 18, mithin volljährig und vollwertiger Bürger der DDR. Aus mit der Ausreise. Nichts mit Heimfahrt. Auch nicht, als Vater todkrank war und starb.

Allenfalls als Rentner hätte man es schaffen können. Denn für die galten seit Ende 1964 zeitlich begrenzte Reisemöglichkeiten zu Besuchen in der Bundesrepublik. Wobei es ein offenes Geheimnis war, dass man die Alten aus Kostengründen gerne ziehen ließ. So manche Ost-Oma hat sich damals ein künstliches West-Hüftgelenk verpassen lassen. Für alle anderen hieß es westreisemäßig noch lange: keine Chance.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, welche Rolle Westpakete in der DDR spielten.

Doch gab es sie, die Löcher in der Mauer. Nicht nur für die gehätschelten Kader und Künstler des Ostens mit dem Dauervisum West, der quasi höchsten Auszeichnung, die das eingemauerte Land zu vergeben hatte. Das Hin und Her in den langen Jahren der Teilung hatte viele Facetten. Die ganz persönlichen Bande zu Verwandten, Freunden – sie ließen sich bei allen sorgfältig ausgeklügelten Restriktionen und Schikanen eben doch niemals so ganz kappen. Die Post spielte dabei eine wesentliche Rolle und hatte eine heute kaum noch vorstellbare Konjunktur. Damals wurde ja noch geschrieben. Briefe, Karten gingen hin und her, Pakete und Päckchen. Das legendäre Westpaket erwies sich als grenzüberschreitend in besonderer Hinsicht. Als freundliche Gabe für die Menschen mit Kontakten zu Verwandten, Freunden, mildtätigen Organisationen knüpfte es Jahr für Jahr zigmillionenfach gewissermaßen zusammen, was zusammengehört, lange ehe der Politikerspruch zum geflügelten Wort geworden ist.

„Prag und Budapest waren beliebte Orte für solche Verabredungen“

Gleichzeitig scheute sich die DDR-Wirtschaft nicht, diese private Einfuhr seit Ende der 60er-Jahre als feste Größe in die „volkswirtschaftliche Warenbilanz“ einzuplanen. Immerhin 4,3 Prozent des gesamten DDR-Einzelhandelsumsatzes machte das alleine im Jahre 1988 aus. Retour ging nur ein Bruchteil der Päckchenmenge, beschränkt durch das hiesige Warenangebot und rigide Ausfuhrbestimmungen. Allen Schwierigkeiten zum Trotz wurden die privaten Verbindungen mit aller Kraft aufrecht erhalten. Auch persönlich begegnen konnte man sich. Natürlich nur in einer Richtung. Prag und Budapest waren beliebte Orte für solche Verabredungen, am Plattensee oder an der Schwarzmeerküste machte man gemeinsam Urlaub; vieles war möglich. Auf DDR-Boden war die Leipziger Messe solch ein Treff. Dort wie auf den Parkplätzen und in Restaurants an der Transitautobahn war man wohl nicht immer so ganz unter sich, nutzte trotzdem auch solche flüchtigen Gelegenheiten. Dann gab es da auch noch diese Adressen in Ost-Berlin. Etliche Bewohner der Hauptstadt der DDR stellten nur allzu gerne ihre Bleibe zur Verfügung als eine Art Stundenhotel für private Ost-West-Treffen. Gegen „harte“ D-Mark, versteht sich. Nicht nur die Stasi hatte ihre konspirativen Wohnungen, obwohl: wer weiß? Möglich geworden war das, weil BRD-Bürger mit Reisepass und Tagesvisum in das Ost-Berliner Stadtgebiet einreisen durften. Mit dem Passierscheinabkommen 1963 öffneten sich auch für West-Berliner erstmals wieder Übergänge in den Ostteil. Nach und nach wurde die Mauer durchlässiger. Der Westbesuch zu Familienfeiern, Festtagen war fast schon normal. Wenn auch mit erheblichen Mühen beiderseits verbunden. Es galt Anträge zu stellen, Begründungen zu (er-)finden, oft peinliche Befragungen im Betrieb zu erdulden, wochenlang auf Genehmigungen zu warten. Für die einreisenden Besucher geriet der mit Zwangsumtausch von D-Mark in Ostgeld verbundene Grenzübertritt oft zum Nervenkrieg.

In dem Reportageband „Westbesuch“ von Jutta Voigt klingt das so: „Du im Westen planst deine Fahrt zu den Verwandten wie eine Weltreise, kein Land ist exotischer als die DDR, keines schwieriger zu erreichen. Nirgendwo musst du öfter um Erlaubnis bitten, nirgendwo wirst du so häufig kontrolliert, verdächtigt, aufgehalten. Du willst alles richtig machen. Genießt den Grusel an der Grenze auch irgendwie.“ Den Grenzgrusel konnten dann ab 1972 auch jene DDR-Bürger auf sich wirken lassen, die unter 65 Jahre alt waren und einen Besuch „in dringenden Familienangelegenheiten“ im Westen ergattert hatten. Neben Geburten und Hochzeiten berechtigten auch lebensgefährliche Erkrankungen und Sterbefälle dazu, überhaupt solch einen Antrag stellen zu dürfen. Da waren mein Vater und weitere enge Verwandte längst tot.

Jeweils auf eigene Weise teilen unzählige Menschen ganz private „Grenzerfahrungen“ im Schatten der Mauer. In der gleichnamigen Ausstellung in Berlin ist unmittelbar zu erleben, wie sich die deutsche Teilung auf das persönliche Leben ausgewirkt hat. Am authentischen Ort. In jenem Bau am Bahnhof Friedrichstraße, der einst als Grenzübergang diente. Im Volksmund bekannt als der „Tränenpalast“. (mz)