Polizeiversagen in Chemnitz? Polizeiversagen in Chemnitz?: Landeschef widerspricht - Gewerkschaft warnt

Berlin - Rechte zeigen den Hitlergruß direkt vor Polizisten. Flaschen und Böller fliegen. Bengalos werden in der Menge gezündet. Die Presse schützt sich mit eigenen Sicherheitsmännern, Helmen und stichsicheren Westen gegen Attacken.
43 Anzeigen und mindestens 20 Verletzte hat es bei den jüngsten Ausschreitungen in Chemnitz am Montagabend nach Informationen der Polizei gegeben. Vorerst. „Auch bei den Verletzten werden wir die Zahlen noch nach oben korrigieren müssen“, kündigte Landespolizeipräsident Jürgen Georgie an.
Massive Kritik an Polizei und CDU-geführter Landesregierung
Oppositionsparteien im Bund sowie der Koalitionspartner SPD üben nach dem Einsatz massive Kritik an Polizei und CDU-geführter Landesregierung. „Am zweiten Abend in Folge war die Polizei in Chemnitz offensichtlich nicht in der Lage, gut organisierte braune Horden in die Schranken zu weisen“, sagt Burkhard Lischka, innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.
Konstantin von Notz (Grüne) fühlt sich „verheerend an die Stimmung vor und während der Pogrome“ vor mehr als 25 Jahren in Hoyerswerda, Mölln und Solingen erinnert. Sein Parteikollege Valentin von Lippmann fordert eine Sondersitzung im sächsischen Landtag, um zu klären, warum es der Polizei nicht gelungen sei, mit ausreichend Kräften vor Ort zu sein - „trotz erkennbarer Mobilisierung der rechten Szene über zwei Tage“.
Auslöser für die Ausschreitungen ist ein Todesfall nach einem Streit auf dem Chemnitzer Stadtfest in der Nacht von Samstag auf Sonntag. Ein 35-jähriger Tischler wurde erstochen, zwei weitere Männer schwer verletzt. Als tatverdächtig gelten ein Iraker und ein Syrer, die in Untersuchungshaft sitzen.
Bereits am Sonntag waren circa 800 Hooligans und Rechte größtenteils unbehelligt von der Polizei durch die Chemnitzer Innenstadt gezogen, skandierten „Das hier ist unsere Stadt“ und „Wir sind das Volk“ und versuchten, Menschen mit ausländischem Aussehen anzugreifen.
Überregionale Größen aus der rechten Szene
Am Montag wuchs die Zahl der Demonstrierenden weiter an: 6000 Teilnehmer schätzt die Chemnitzer Polizei bei der vom rechten Bündnis „Pro Chemnitz“ angemeldeten Veranstaltung, die auch aus anderen Bundesländern, wie Berlin, Brandenburg, Thüringen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen angereist seien.
Laut Medienberichten waren darunter auch überregional bekannte Größen der Szene wie Tony Gentsch von der Partei „Der Dritte Weg“ und Tommy Frenck. Die Linke rief schon am späten Nachmittag zu einer Gegenkundgebung auf, dort sammelten sich noch einmal 1500 Menschen. Zwischen den beiden Lagern: nur 591 Polizisten.
Einsatzkräfte sehen von Strafverfolgung ab
Von einer Strafverfolgung sahen die Einsatzkräfte rasch ab, verwiesen gegenüber Pressevertretern stattdessen darauf, dass sie Straftaten auf Video aufzeichnen und später ahnden würden. Bis zum Dienstagmittag nahm die Chemnitzer Polizei 43 Anzeigen auf, darunter elf wegen Körperverletzung, zehn wegen des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, zwei wegen des Verdachts auf Landfriedensbruch.
Mindestens 20 Menschen wurden verletzt, neun waren der rechten Seite zuzuordnen, neun weitere den Gegendemonstranten. Ein Sprecher der Chemnitzer Polizei räumte noch am Montagabend Fehler ein: Man habe nur mit einigen Hundert Teilnehmern gerechnet.
Dass zu wenig Polizisten vor Ort gewesen seien, dem widerspricht auch Landespolizeipräsident Georgie nicht. Vorab angemeldet seien bei beiden Demonstrationen insgesamt 1500 Teilnehmer. Im Laufe des Montags habe die Polizei ihre Prognosen verdoppelt und entsprechend Personal bereitgestellt. Eine Fehleinschätzung, wie Georgie aber nur indirekt eingesteht: „Bei einer anderen Lageprognose wäre es gestern möglich gewesen, weitere Einheiten zu entsenden.“
So aber waren nach Informationen der Chemnitzer Polizei lediglich Kräfte der städtischen Polizeidirektion und der sächsischen Bereitschaftspolizei vertreten. Die Bundesbereitschaftspolizei, die bei solchen Großlagen und bei über mehrere Bundesländer anreisenden Teilnehmern in der Regel hinzugezogen wird, war nicht vor Ort.
Landeschef Michael Kretschmer verteidigt sich
Landeschef Michael Kretschmer (CDU) sieht trotzdem keine Fehler auf Seite von Landespolitik und -polizei: Der Polizeieinsatz sei erfolgreich gewesen, teilte er auf einer Pressekonferenz am Dienstag mit. „Der sächsische Staat ist handlungsfähig und er handelt. Straftäter auf allen Seiten werden dingfest gemacht.“
Die Linke sieht das ganz anders. Sie fordert den Rücktritt des sächsischen Innenministers Roland Wöller (CDU). Dieser sei vom Verfassungsschutz gewarnt worden, dass sich „aus der ganzen Bundesrepublik rechtsradikale, gewaltbereite Gruppen in Chemnitz einfinden werden“, sagte Parteichef Bernd Riexinger dem Nachrichtensender n-tv. Wöller habe „offensichtlich nicht dafür gesorgt, dass die Polizei entsprechend vorbereitet ist“.
Strukturelle Problem bei der Polizei
Jörg Radek, stellvertretender Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, verweist auf strukturelle Probleme: Bundesweit seien in den vergangenen Jahren 16.000 Stellen bei der Polizei abgebaut worden. „Im Freistaat Sachsen wurde, zusammen mit Berlin, mit 2300 Stellen am meisten Personal eingespart“, sagt er dieser Zeitung. Die Polizei sei deswegen im Alltag oft nicht mehr präsent, „der Staat auf dem Rückzug“. Radek: „Es wurden in der Vergangenheit Fehler gemacht, die sich jetzt rächen.“
Die Gewerkschafter befürchten, dass sich Fälle von Selbstjustiz häufen könnten. „Wir dürfen nicht zulassen, dass der Mob die Regentschaft auf der Straße übernimmt. Dazu müssen wir aber auch die Polizeipräsenz erhöhen“, so Radek.
Kritik an Innenminister Horst Seehofer
Nachdem sich Kritik auch gegen Innenminister Horst Seehofer (CSU) richtete, unter anderem weil der sich als zuständiger Minister noch nicht zu den Vorfällen geäußert hatte, äußerte sich der CSU-Chef am Dienstagmittag. Sein Mitgefühl gelte den Angehörigen des Opfers der Messerattacke. Die Betroffenheit der Bevölkerung sei verständlich.
Er wolle aber auch deutlich sagen, dass dies „unter keinen Umständen den Aufruf zu Gewalt oder gewalttätige Ausschreitungen rechtfertigt“. Er bot der Landespolizei Unterstützung durch die Bundespolizei an. Man werde das Angebot des Ministers annehmen, sagte Polizeipräsident Georgie, und in Chemnitz die „Präsenz erst einmal erhöhen“.
Die Menschenrechtsorganisation Mission Lifeline, die sich für Seenotrettung im Mittelmeer einsetzt, wird diese Ankündigung nicht beruhigen. Man beginne jetzt mit Vorbereitungen zum Schutz der Vereinsräume in Dresden, twitterte die Organisation nach den Ausschreitungen am Montag. „Wir danken der Polizei Sachsen, uns rechtzeitig signalisiert zu haben, dass sie uns nicht schützen kann.“