Politpsychologe der Hochschule Magdeburg-Stendal Politpsychologe der Hochschule Magdeburg-Stendal: "Volk ist emotional woanders als die Rechtsextremen"

Stendal - Das Jahr 2015 war das Jahr der Flüchtlinge. Ihre Ankunft wurde vielerorts von hitzigen Debatten und wütenden Demos begleitet. Das sei durchaus eine bekannte Form der gesellschaftlichen Stressbewältigung, sagt Politikpsychologe Prof. Thomas Kliche von der Hochschule Magdeburg-Stendal. Im Interview der Deutschen Presse-Agentur erklärt er, warum das Land aus seiner Sicht nicht extremer, sondern endlich wieder politischer wird.
Ist Deutschland in diesem Jahr extremer geworden?
Kliche: Ja und Nein. Das Jahr 2015 ist ein historischer Schnitt, es hat uns verändert. Es ist das Jahr der Globalisierung. Griechenland, Paris, die Flüchtlinge zeigen uns: So, wie wir gelebt haben, können wir nicht weiterleben. Wir können nicht so tun, als säßen wir unter der Glasglocke und der Rest der Welt muss draußen bleiben. Das hat viel in Bewegung gesetzt, stresst viele Menschen. Aber radikaler macht es nicht. Die Zeitreihenanalysen, die vorliegen, zeigen, dass seit 15 Jahren das Potenzial rechtsextremer Menschenfeindlichkeit schrumpft. Es ist da, es ist solide, es ist in der Lage, in Parlamente zu kommen. Aber tatsächlich ist Deutschland offener geworden.
Es wird durch den Flüchtlingsdiskurs kein Alltagsrassismus sichtbar?
Kliche: Doch, Alltagsrassismus wird sichtbar. Aber der war früher nach den vorliegenden Daten stärker. Er nimmt ab. Zugleich leben in Deutschland große Anteile von Migranten mehrerer Generationen. Wir müssen unsere Werte und das Zusammenleben auf Verständigung und Vernunft aufbauen. Deutschland war immer eine von Migration bereicherte und getragene Kultur. Das wird jetzt auch wieder deutlich.
Der Eindruck durch steigende fremdenfeindliche Straftaten täuscht?
Kliche: Nein, der Eindruck täuscht nicht. Die Rechtsextremen mobilisieren. Dazu nutzen sie multiplikative Kriminalität. Das heißt, sie versuchen Fanale zu setzen, sie fackeln in erheblichen Mengen Unterkünfte ab. Sie versuchen, Volksstimmung zu simulieren. Sie tun so, als würden sie vollstrecken, was Volkes Wille ist. Volk ist aber emotional woanders als die Rechtsextremen. Volk ist verunsichert und möchte, dass die Politik es richtet. Die kann es aber nicht richten, weil es keine fertigen Lösungen gibt. Deswegen findet Demokratie wieder als Lernprozess statt, weil Menschen erkennen: Politik ist kein Rundum-Sorglos-Paket, sondern ich selbst habe Verantwortung.
Welche Rolle werden die Extremen im Landtagswahlkampf spielen?
Kliche: Die Karten werden neu gemischt. Die Wahlarithmetik läuft darauf hinaus, dass es für rot-grün oder rot-rot-grün kaum je reichen wird. Spannend wird nun, inwieweit es dann für eine große Koalition reicht. In Sachsen-Anhalt ist zwar keine Wechselstimmung zu erkennen, aber der kleinere Koalitionspartner könnte massive Verluste erleiden. Ich erwarte auch, dass die AfD im Landtag sitzt, die NPD nicht. Und dann wäre offen, wie stark die nächste große Koalition eigentlich wird.
Insgesamt wird die Gesellschaft also nicht radikaler?
Kliche: Erstmal sind übliche Reaktionen zu beobachten, die die Psychologie aus Innovationsverläufen kennt. Die Globalisierungserfahrungen lösen makrosozialen Stress aus, sie stellen infrage, wie wir leben. Darauf reagieren die Menschen mit unterschiedlichen Formen der Schockbewältigung. Das beginnt mit rückwärtsgewandten, regressiven, also kindlichen Fantasien, alles könnte beim Alten bleiben. Etwa, indem man nur laut genug schreit, „Wir sind das Volk“, dann verschwinde das Andere. Aber es gibt auch die proaktive Bewältigung, die auf Problemlösung und Selbstwirksamkeit gerichtet ist, im Sinne eines „Wir schaffen das“ der Bundeskanzlerin. Die Mehrheit wird über kurz oder lang auf der proaktiven, reifen Stufe ankommen.
Und welche Politik wird sich durchsetzen?
Kliche: Es gibt im Grunde zwei Wege und eine Weiche, die wohl nächstes Jahr gestellt werden wird: Wollen wir eine große politische oder eine kurzsichtige technische Lösung? Wenn es bei einfachen Formen von primitiver Abwehr bleibt, kommt die technische Lösung. Also irgendwie Grenzen ein wenig abdichten und so tun, als würde sich im Grunde nichts ändern. Die politische Lösung wäre, dass die Menschen begreifen, wie Globalisierung unsere gesamte Lebensweise verändert. Das ist ja die Erkenntnis, die eigentlich tief verunsichert. Es steht viel auf dem Prüfstand, wie die Verschwendung, die wir uns gestatten.
Und worauf tippen Sie, wohin zeigt die Weiche?
Kliche: Ich war noch nie so optimistisch. Die Menschen sind jahrelang eingelullt worden - und haben sich einlullen lassen. Da blühte die Komplizenschaft zwischen einer politischen Führung, die so tut, als würde sich nichts verändern und man könnte durch Verwalten alles fortschreiben - und einer Bevölkerung, die naiv die Welt ausblendet: „Oh, wunderbar, wir wollen unsere Bequemlichkeit haben und ein bisschen Wachstum, aber sonst soll sich nichts verändern.“ Ich bin optimistisch, dass die Menschen sich der Globalisierung als Gestaltungsaufgabe nicht mehr entziehen können und unsere Gesellschaft politischer und damit verantwortungsbewusster wird.
ZUR PERSON: Thomas Kliche ist Politik- und Gesellschaftspsychologe. Er hat die Professur für Bildungsmanagement an der Hochschule Magdeburg-Stendal inne. Zuvor war er an der Universitätsklinik und der Universität in Hamburg. Kliche arbeitet und forscht seit mehr als 25 Jahren als Politpsychologe und beschäftigte sich zudem mit Gesundheitsforschung. (dpa)