Polen Polen: Schwierige Reise in die Vergangenheit von Ostpreußen

Olsztyn/Allenstein/dpa. - «Mehr und mehr kommen nun wegen der Schönheit derLandschaft und der alten Städte.»
In diesem Bus allerdings, in dem Alicja sitzt, sind gleich 20Personen in zwei Gruppen auf Spurensuche nach der Vergangenheit ihrerGroßmütter und -väter, Mütter und Väter, Onkel und Tanten. 13Cousinen und Cousins, die von Bremen bis Berlin verstreut wohnen,machen einen ganz besonderen Familienausflug. In der Gruppe derSieben ist ein Mädchen dabei, das zum ersten Mal die Heimat derUrgroßeltern besucht.
Nur eine Minderheit hat sich durch Fernsehberichte zu einem Besuchin Ostpreußen verlocken lassen und tritt nun neugierig inOstroda/Osterode, dem «masurischen Tor», in das bezauberndeSeengebiet ein. Die anderen 20 fragen sich wohl etwas nervös und miteinem leichten Prickeln auf der Haut, was denn wohl noch zu sehen, zuerkennen, zu erinnern sein werde.
«Langsamchen», mahnt die Polin Olga, als der Busfahrer etwas zuflott auf die schmale Brücke zusteuert. Vor kurzem ist man mit dem3,52 Meter hohen Gefährt bereits unter einer Brücke durch gefahren,die laut Warnschild nur 3,20 Meter hoch ist. «Polnisches Maß», lachtOlga amüsiert, aber bei der neuen Brücke hält sie den warnendenHinweis trotzdem für angebracht, und sei es auch nur, um ihren Gästenaus Deutschland ihr Ostpreußisch vorzuführen.
«Meine Gäste» wählt sie recht häufig als Anrede, als wolle sieklar machen, dass sich die Verhältnisse nun für immer gewandelthaben. Und daran ändert auch nichts, dass der Rentner HeinrichSchröder an ihrer Seite mitfährt, der nach dem Krieg geblieben istund die Zeit der kommunistischen Herrschaft als Mathematiklehrerüberwintert hat. Er repräsentiert im Bus nun sozusagen die deutscheMinderheit in Polen und erzählt Geschichten von vorgestern.
Die örtliche Begleitung ist sich der auch nach 60 Jahren nochdelikaten Situation durchaus bewusst. «Polen hat nach dem Weltkriegviel Land verloren, ein Drittel», schildert Alicja. «In der Ukraine,Weißrussland, Litauen mussten die Polen das Land verlassen, nichtfreiwillig, und mussten ein neues Leben beginnen. Das war wie bei denDeutschen. Die aus der Ukraine gingen überwiegend nach Südschlesien,die aus Litauen und Weißrussland nach Ostpreußen und Pommern. Jederdachte, das dauert einige Jahre, dann kann ich wieder zurück, wie beiden Deutschen.»
Und da sie gerade bei diesem Kapitel ist, rechnet sie auf ihre Artmit denen ab, die damals die Antreiber der Trecks waren undmittlerweile selbst wieder abgezogen sind. «Die Russen mussten Polenverlassen, dank unseres Präsidenten Lech Walesa. Das haben sie nichtgerne getan. Sie haben es gut gehabt. Wenn es in der schlimmstenkommunistischen Zeit in den polnischen Läden nichts gab, hatten siegenug in ihren eigenen Läden, und sie hatten Macht. Jetzt sind wirkeine "Brüder" mehr, wir sind normale Nachbarn, und die Liebe istvorbei.»
Was sie zu diesem Zeitpunkt nicht weiß, ist, das auch ein jungerGeorgier im Bus sitzt. Vladik musste nach dem Zerfall der Sowjetunionselber fliehen und ist inzwischen amerikanischer Staatsbürger. Er istder Vater des acht Jahre alten Mädchens, dessen Urgroßmutter,inzwischen fast 97 Jahre alt, im eiskalten Januar 1945 mit Sohn undzwei Töchtern aus Ostpreußen floh. Hätte damals jemand derleiverwandtschaftliche Verhältnisse der Zukunft für möglich gehalten?
Vladik hat mit Alicjas Darstellung kein Problem, später werden diebeiden munter auf Russisch miteinander plaudern. «Das istverständlich, das Unbehagen in den Beziehungen zu Russland», meinter. «Es wird weitere 30 Jahre brauchen, bevor es vielleichtverschwindet. Es ist ein bisschen so, wie die Chinesen bei denJapanern empfinden.»
Eine Lektion in Politik ist nur noch einmal angesagt. Kaum einBesucher, sei er deutscher oder anderer Nationalität, fährt ohneStopp an der Wolfsschanze beim Städtchen Rastenburg/Ketrzyn vorbei,der im dichten Wald verborgenen Bunkeranlage Adolf Hitlers. Dortplanten Hitler und seine Berater den Russland-Feldzug, dort misslangam 20. Juni 1944 das Attentat des Grafen Claus Schenk vonStauffenberg auf den Führer. Zu besichtigen sind Überrestemeterdicker Betonwände - Unbehagen macht sich breit.
Eine junge polnische Führerin hält den deutschen Besuchern hier imwahrsten Sinne des Wortes ein Bild ihrer Vergangenheit vor - Kopienvon Schwarz-Weiß-Fotos, auf denen Hitler, Eva Braun, Albert Speer,Stauffenberg, weitere Gestalten des Dritten Reiches und Skizzen derKriegszentrale im ostpreußischen Forst zu besichtigen sind. Dieschmerzhaften Stiche der Mücken und Bremsen reißen die Betrachter ausder leicht surrealistisch wirkenden Situation, bringen ihn schnell indie Gegenwart zurück.
Das heutige Polen zeigt eine frische EU-Vitalität, isteingesponnen in das Netz der Globalisierung. McDonald und Burger Kingaus den USA sind da, Geant, Carrefour, Castorama, Novotel und garPierre Cardin aus Frankreich, Rossmann, Siemens etc. aus Deutschland,Skoda aus Tschechien. Aber etliches aus früheren Tagen ist doch nochzu sehen, trotz der teils schweren Kriegszerstörungen. Im einstmalswestpreußischen Thorn/Torun wird an den großen Sohn NikolausKopernikus erinnert, der hier zur Welt kam, einige Kirchen undHäuserfronten sind in dieser 1231 von deutschen Ordensritterngegründeten Stadt erkennbar deutsch.
In den Geschäften werden die «Katharinchen», Pfefferkuchen, immernoch feilgeboten, nun heißen sie Pierniki. Dass auch im kriegerischenWechsel der Zeiten mal Napoleon vor Ort war, belegen die in die alteStadtmauer am Weichsel-Fluss gebauten Toiletten. Nicht viel ist vomgroßen Bonaparte übrig geblieben. Dass es neben dem Code Napoleonauch ein Klo Napoleon ist, überrascht so manchen Touristen.
Über Olsztyn/Allenstein ragt die Burg der Ordensritter, heutzutageein Museum von Ermland und Masuren. Als Zeichen, dass dort auch derAstronom Kopernikus wirkte, der die Erde dem Mittelpunkt desUniversums entrückte und der Sonne unterordnete, belegt eine kleineMünzprägerei: Besucher können sich eine Münze mit dem Porträt desWissenschaftlers auf der einen und einer Ansicht der Burg auf deranderen Seite abholen.
In der schön restaurierten Altstadt herrscht buntes Treiben,obwohl Regengüsse und Sonnenschein einander ablösen.Nikolaiken/Mikolajki verteidigt unerschütterlich seinen Ruf, der amschönsten gelegene Ort Masurens zu sein, und ist wie auchSensburg/Mragowo immer noch eine strahlende Urlaubs-Perle. InOsterode/Ostroda, im Zweiten Weltkrieg schwer verwüstet, wacht daswieder aufgebaute Schloss über die schöne Promenade am Drewenzsee.
Die lebendigste Erinnerung an früher wecken jedoch die Störche,die die Fahrt durch Ostpreußen begleiten. Überall stehen sie zuzweit, dritt oder gar viert in ihren Nestern auf Dachfirsten, Strom-und Telefonmasten. Das weite, von Alleen durchschnittene Agrarlandist anders als im Westen nicht von Ingenieuren auf ökonomischenVordermann gebracht, begradigt, getrimmt, eingezwängt und zubetoniertworden. In Sümpfen und Feuchtgebieten finden die Störche nochreichlich Futter, um ihre umfangreiche Brut großzuziehen.
«40 000 Paare nisten in Polen, ein Drittel der Storchenpopulationin der Welt», berichtet Alicja, «besonders in Masuren und Pommern.»Wenn die Jungen ihr Nest verlassen haben, kehren sie nicht mehrdorthin zurück. Sie übernachten auf Scheunen und Bäumen, bis sie EndeAugust zu ihrer großen Reise ins südafrikanische Winterquartieraufbrechen.
Nicht alle deutschstämmigen Bürger sind nach dem Kriegfortgezogen. Der Mathelehrer Heinrich Schröder gehört dazu und auchChristel/Krzystina und Ditmar Dickt. Sie haben in Zandern/Sadry ihrealte Landwirtschaft in ein Bauernmuseum umgewandelt, das Besucher ausaller Welt anlockt. «Eine Spanierin, hingerissen von dieserwunderschönen Gegend», schreibt jemand mit dem Namen Consuelo ihnenins Gästebuch. Außerdem betreiben die Dickts eine Pension fürSommerfrischler.
Für ihre Gäste backt die stämmige Christel Dickt mit Kirschen oderBlaubeeren gefüllte Hefekuchen, und wenn keine Kinder dabei sind,erzählt sie auch den einen oder anderen derben Witz. Ihr Erfolg istder eigenen Tatkraft zuzuschreiben, zu kommunistischen Zeitenebenfalls der magischen Wirkung eines Tausches von Behördenstempelgegen fette Gänsen.
Die Reise in die Vergangenheit nähert sich dem Ziel. Es heißtheute Browina, zur Zeit der Flucht war es Froben, davor auf gutMasurisch Browienen. Es liegt südlich von Osterode unweit vonHohenstein/Olsztynek. Hier war der Urgroßvater der AchtjährigenLehrer, der Klassenraum befand sich gleich nebenan im Haus. ZweiLäden gab es, viel Wald rings um den Laubensee, wo der Uropa auf dieJagd und zum Angeln gehen konnte, seine liebsten Hobbys. Auf demschmalen Waldweg kenterte im Winter schon mal der Schlitten, undeinmal blieb die auf dem Rücksitz des Motorrads aus dem Gleichgewichtgeratene Uroma gar an einem Baum hängen, nach dem sie Hilfe suchendgegriffen hatte.
Als der gemietete Kleinbus mit den sieben familiären Pfadfindernhält und die Gruppe aussteigt, ist es, als wäre die Zeit stehengeblieben - aber nach der Stunde Null. Eine Straße mitKopfsteinpflaster zieht sich durch den Ort, gesäumt von Gras undWildkräutern. Die wenigen Häuser tragen grauen Putz, bei manchenfehlt selbst der. Ein früheres Bauernhaus ist verfallen. Das einstigeSchulhaus nähert sich dem Zerfall, noch ist es bewohnt, aber eineSchulklasse beherbergt es längst nicht mehr. Der einst sandigeSchulhof ist verkrautet. Um das Gebäude führt ein ausgetretener Wegzum Nebenhaus. Dort lebte einmal die Spielkameradin Mia; fünf Jahrewar sie alt zum Zeitpunkt der Trennung in jenem eisigen Fluchtwinter.
Ein angeleinter junger Hund kläfft vor seiner Hütte. Eineweißhaarige Frau tritt aus dem Haus: Mia. Ihre Augen weiten sich, alsdie Besucher sich vorstellen. «Die Rosi! Die Jutta!» Sie ringt ihreverarbeiteten Hände. «Hättet Ihr doch Bescheid gesagt, ich hätteetwas vorbereitet.» In der Küche steht eine Zinkwanne miteingeweichter Wäsche. Der weiß emaillierte Kohleherd dürfte aus denfünfziger Jahren stammen. Nebenan, im Schlafzimmer, liegt die 92Jahre alte Mutter im Bett. Sie sei seit zehn Jahren bettlägerig,berichtet Mia. Das frühere Kindermädchen der beiden Besucherinnen,Agnes «Aga», ist vor sechs Wochen gestorben. Die Rückblende ist vorallem trist.
Auch die Proportionen haben sich in der Erinnerung verschoben.«Der Hügel hier war viel größer», sagt Jutta und lacht, denkt an ihreZeit hier als Zwölfjährige. Abenteuerliche Schlittenfahrten machtendie Kinder damals von der Erhebung hinunter. Der Dorfteich scheintebenfalls irgendwie kleiner, zugewachsen. Die Gäste kehren dem Weilernachdenklich den Rücken.
«In 20, 30 Jahren mache ich vielleicht dasselbe», sagt Vladik. Erspricht von einem Wiedersehen mit Georgien, der Region Abchasien, ausder er mit Eltern und Geschwistern vertrieben wurde: DieVergangenheit ist für ihn zugleich Gegenwart und Zukunft.