Polen Polen: «Hauptsache, es geht endlich los»
Warschau/dpa. - Die Schläfen sind grau geworden, dieGesichtshaut erschlafft - aber auch mit 78 Jahren sitzt WojciechJaruzelski kerzengerade auf der Anklagebank des WarschauerBezirksgericht. Der Ex-General, dessen Augen hinter der dunklenSonnenbrille nicht zu erkennen sind, vertieft sich in seineProzessakte, während wenige Meter entfernt Staatsanwalt BogdanSzegda seine 429 Seiten lange Anklageschrift vorliest. Fast scheintes, als habe er in den vergangenen Monaten geübt, in Rekordtempo zureden, ohne Luft zu holen, während er seine Anklagepunkte gegen denehemaligen polnischen Staats- und Parteichef und sechs andere hoheEx-Funktionäre ordnet.
Denn die Zeit scheint knapp zu werden in dem Prozess, derursprünglich im Mai beginnen sollte. Länger als vier Stunden dürfendie Verhandlungstage wegen des hohen Alters und der angeschlagenenGesundheit der Angeklagten nicht dauern. Und auch die mehr als 1000Zeugen, auf deren Aussagen die Beweisführung basiert, werden nichtjünger, Erinnerungen drohen zu verblassen.
Vor dem Gericht geht es nicht um Jaruzelskis Rolle bei derVerhängung des Kriegsrechts vor 20 Jahren, sondern um die blutigeNiederschlagung des Arbeiteraufstandes an der polnischen Ostseeküsteim Dezember 1970. Im Kugelhagel der Miliz starben nach offiziellenAngaben 44 Menschen, mehr als 1000 wurden verletzt. Jaruzelski wardamals polnischer Verteidigungsminister, und Szegda wirft ihm vor,zusammen mit anderen Regierungsmitgliedern gegen geltendes Recht denSchießbefehl erteilt zu haben.
«Hauptsache, es geht endlich los» meinen einige der älterenProzessbeobachter. Denn erst im zehnten Anlauf konnte derStaatsanwalt seine Anklage verlesen, immer neue Anträge derVerteidigung sorgten für Verzögerungen. «Ich bin zufrieden, dass derProzess nun endlich beginnt», sagte auch Jaruzelski vor derVerhandlung. Er will am Donnerstag in eigener Sache aussagen.
Es ist fast schon ironisch, dass der Prozess gegen den einstmächtigsten Mann Polens nach jahrelangem juristischem Hickhackausgerechnet jetzt beginnt. Denn während Jaruzelski auf derAnklagebank sitzt, bildet Leszek Miller, sein einstiger Kollege imPolitbüro, die neue sozialdemokratische Regierung Polens. Und diePolitiker der «Solidarität», für die die Erinnerung an die «für Brotund Freiheit» demonstrierenden Werftarbeiter Verpflichtung ist, sindnur noch außerparlamentarische Opposition.