Pflicht oder nicht? Pflicht oder nicht?: Richter urteilen zu Fahrradhelm

Halle (Saale) - Auf der einen Seite rollen Autos und Straßenbahnen, auf der anderen parken Wagen, dazwischen die Radspur. Ortstermin auf einem der für Radfahrer besonders gefährlichen Plätze in Halle, am Reileck. Innerhalb einer Stunde passieren am Montag 67 Radfahrer den Knotenpunkt nahe des Stadtzentrums. Nur zwölf sind mit einem schützenden Helm unterwegs, vorwiegend junge Frauen und Kinder.
Damit liegt der Anteil der helmtragenden Radler aber immer noch etwas höher als im bundesweiten Schnitt: Nur 15 Prozent der Radler fahren mit Helm. Das bedeutet: Mehr als vier von fünf Fahrradfahrern verzichten auf den Unfallschutz. Ob sie damit auch im Falle eines Falles ihre Schadensersatzansprüche schmälern, darüber entscheiden am Dienstag die Richter des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe. Sie befinden über den Streit zwischen einer Radlerin, die ohne Helm unterwegs war, und der Versicherung einer Autofahrerin. Nach einem von der Autofahrerin allein verursachten Unfall hatte die Versicherung der Radlerin eine Mitschuld an ihren schweren Kopfverletzungen zugesprochen - und damit vor dem Oberlandesgericht Schleswig recht bekommen. Gegen diese Schuldzuweisung wehrt sich mit der Klägerin auch der Allgemeine Deutsche Fahrrad Club (ADFC), der die Frau bei ihrer Klage unterstützt. Sprecher René Filippek befürchtet, dass es zu einer Prozesswelle um Schadensersatzansprüche kommt, sollten die Bundesrichter die Mitschuld der Radfahrerin anerkennen.
Im April 2011 kam es zu dem Unfall, über dessen Folgen heute der Bundesgerichtshof in Karlsruhe verhandelt. Die Richter entscheiden darüber, ob eine damals 58-jährige Radfahrerin nach einem unverschuldeten Unfall eine Mitschuld an den erlittenen Kopfverletzungen trägt. Dem Urteil der Bundesrichter wird wegweisende Bedeutung zugesprochen - wird das Urteil der Vorinstanz bestätigt, gäbe es eine Helmpflicht durch die Hintertür.
Das Oberlandesgericht Schleswig hatte das Radeln ohne Helm als ursächlich für das Ausmaß der Kopfverletzungen gewertet. Die Frau war seinerzeit in Glücksburg (Schleswig-Holstein) auf dem Weg zur Arbeit, als sich die Tür eines am Fahrbahnrand geparkten Pkw öffnete. Die 58-Jährige hatte keine Chance auszuweichen, prallte gegen die Tür und stürzte. Sie schlug mit dem Kopf auf das Pflaster und erlitt schwere Schädel-Hirnverletzungen.
Die Schuldfrage für den Unfall selber war schnell geklärt. Die Autofahrerin hätte sich umsehen müssen, bevor sie die Tür öffnete. Für die Folgen des Unfalls will die Versicherung der Autofahrerin nur teilweise aufkommen. Weil die Radfahrerin keinen Helm getragen habe, gebe es eine Mitschuld.
Diese Argumentation hat das Oberlandesgericht Schleswig anerkannt. Die Richter sahen eine Mitschuld von 20 Prozent. Sollten die Karlsruher Richter dem folgen, könnten Haftpflichtversicherer künftig einen Teil ihrer Kosten an die gesetzliche Kranken- und Unfallversicherung weiterreichen. Zudem könnten sich die Schadensersatzansprüche ohne Helm verunglückter Radler vermindern.
Und es gäbe künftig quasi eine Helmpflicht, die sowohl der ADFC wie auch der Automobilclub ADAC ablehnt. Sie befürchten, dass der Zwang zum Helm viele Menschen dazu bringen würde, das Fahrrad stehen zu lassen und ins Auto zu steigen. Sie verweisen auf entsprechende Erfahrungen in Australien - sowie auf die negativen Folgen für die Umwelt. Und schließlich fördere Radeln die Gesundheit. Laut ADFC sterben jährlich 400 000 Menschen in Deutschland an Herz- und Kreislauferkrankungen - aber nur 400 Radler bei Unfällen.
ADAC und ADFC wünschen sich deshalb unisono mehr sichere Radwege. Sie sollten „ausreichend breit“ sein, so der ADAC, der auch gute Sichtverhältnisse an Einmündungen fordert. Beide Organisationen appellieren zugleich an die Radfahrer, freiwillig einen Helm zu nutzen. „Er kann leichte Verletzungen verhindern und schwere mindern“, sagt ADFC-Mann Filippek.
Auf Seite 2 berichtet ein Chirurg über Unfallfolgen.
Das bestätigt der hallesche Unfallchirurg Holger Siekmann. Der Direktor der Unfallchirurgie der Uniklinik Halle kennt die Gefahren von Stürzen auch als Rennrad-Fahrer. Da gehe beim Sturz schon mal ein Helm zu Bruch, „aber der Kopf bleibt ganz“. Das Risiko von Schädelbrüchen und Hirnblutungen mit fatalen Spätfolgen werde minimiert. Der Helm biete jedoch keinen Rundum-Schutz, betont Siekmann. Bei Stürzen sind weiter die Teile des Kopfes gefährdet, die der Helm nicht umfasse - vor allem das Gesicht. Verrenkungen, Brüche, bleibende Schäden, die sich beim Kauen, Sprechen oder Sehen bemerkbar machen könnten, zählt der Mediziner auf. Er sagt indes auch: „Eine Pflicht hätte sich erledigt, wenn jeder aus Einsicht einen Helm tragen würde.“ Darauf setzt auch das Magdeburger Verkehrsministerium. Eine Helmpflicht werde derzeit von der Mehrheit der Radler nicht akzeptiert und sei zudem schwer zu kontrollieren, sagt ein Sprecher.
Trotz der Appelle nimmt der Trend zum Fahrradhelm, den Hersteller als Lebensretter empfehlen, nur langsam zu. Dabei ist die Vielfalt dieser Art von Kopfbedeckung frappierend. Interessenten können aus mehr als 1 200 Modellen wählen. Kay Schwinzer vom halleschen Fachgeschäft „Fahradies“: „Wer bei uns ein Rad kauft, der bekommt auch einen Helm angeboten.“ Indes nehme weniger als die Hälfte der Kunden diese Offerte an. Dabei sei die Anschaffung vergleichsweise günstig, einen schnittigen und soliden Einsteiger-Helm bietet der passionierte Trial-Fahrer für 54 Euro an. Selbst Erfahrungen, von denen der junge Mann berichtet, können Vorurteile nur selten aufbrechen. „Autofahrer haben mich zwei Mal angefahren. Hätte ich keinen Helm getragen, würde ich heute wahrscheinlich im Rollstuhl sitzen.“
Ob jemand mit oder ohne Helm unterwegs ist, daran lässt sich eine Weltanschauung erkennen. Als „absolut uncool“ gilt er nicht nur bei Ricco Stein, einem der halleschen Pizza-Fahrer - er ist stets ohne Kopfschutz unterwegs. „Warum soll ich mir nicht ein Stück Sicherheit kaufen“, steht hingegen die Rechtsanwaltsgehilfin Ariane Brückner zu ihrer Entscheidung, einen Helm aufzusetzen. Auslöser war ein schmerzhafter Sturz - und ihre Erkenntnis: „Ich habe keine Knautschzone wie ein Auto.“
„Das Risiko gehört dazu“
Gegensätzliche Antworten geben auch die Studenten am Universitätsplatz in Halle. Die einen winken ab - der Helm verderbe die Freude am Radfahren. So sagt Lehramtsstudent Lars Ritter: „Das Risiko gehört einfach dazu.“ Die anderen, wenngleich in der Minderheit, sehen in einem Helm etwas Modisches. „In den Farben des Feuers, das ist Kult“, sagt die künftige Designerin Katrin Rosenbeck.
Dieser Auffassung kann man folgen, muss es aber nicht. So sieht es zumindest die Stadt Halle. Sind Angestellte auf einem der sechs Dienstfahrräder unterwegs, werde ihnen die Nutzung eines Helms zwar empfohlen. Aber nur wer auf eines der drei E-Bikes steigt, so Pressesprecher Drago Bock, muss einen Helm tragen.
Das ist auch bei der Polizei Praxis. Sprecher Ralf Karlstedt: „Fahrradstreifen rücken grundsätzlich nur mit Helm aus.“ Auch bei den Fahrradstaffeln in Berlin und Leipzig gehören die Helme mit zur Ausrüstung - als Schutz und wegen der Vorbildwirkung. (MZ)