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Persönliches Persönliches: Reporter-Ehepaar erzählt seine Geschichte vom 11. September 2001

Von ANJA REICH UND ALEXANDER OSANG 19.08.2011, 13:49

Halle (Saale)/MZ. - Ich stehe vor meinem Kleiderschrank und überlege, was ich anziehe. Die Reise von Brooklyn nach Manhattan ist ja auch immer eine Reise vom Land in die Stadt. Wir gehen in die City, sagen sie hier. Ich habe Cargo pants an, Turnschuhe und ein T-Shirt. So geht das nicht. Andererseits habe ich natürlich keine Ahnung, wie man sich für einen Häuserbrand in Manhattan anzieht. Vielleicht gibt es anschließend, wenn das Feuer gelöscht ist, noch eine Pressekonferenz mit dem Bürgermeister. Ich nehme ein hellblaues Hemd, eine graue Hose und die halbhohen Schuhe, die ich mir im Sommer gekauft habe. Dann nehme ich mir ein Notizbuch vom Schreibtisch meiner Frau. Nur etwa die Hälfte der Seiten ist mit Vokabeln beschrieben, die Anja auf dem Baruch City College lernte, das sie in ihrem ersten New Yorker Jahr besuchte. Ich nehme es mit nach unten. "Das ist mein Block", sagt meine Frau. "Komm", sage ich. "Ich muss echt los." - "Woher weißt du denn, dass ich nicht auch mitwill?", fragt sie. "Willst du denn?", frage ich. Ich merke, wie ich hektisch werde, nicht wütend, aber hibbelig. Ich muss jetzt wirklich gehen, und ich habe das Gefühl, an einer Leine zu hängen. Es geht um den Schreibblock, sicher, aber natürlich geht es auch um die ganz großen Fragen der Gleichberechtigung. Wir sind auf dünnem Eis, eine falsche Bewegung und wir brechen ein.

Als mein Mann nach all dem Gepolter wieder zu mir herunterkommt, hat er ein Notizbuch in der Hand. Er will es gerade in seinen Rucksack stopfen. "Das ist mein Englischheft", sage ich. "Bitte Anni, ich muss jetzt gehen und ich brauche was zum Schreiben." - "Ehrlich gesagt überlege ich gerade, ob ich mitgehe", sage ich. Alex guckt mich überrascht an. Ich bin auch überrascht. Ich wollte das nicht sagen. Es ist mir einfach so rausgerutscht. Aber jetzt, wo es gesagt ist, ist es eine Möglichkeit. Ich bin die Frau des Spiegel-Korrespondenten, die ihm den Rücken frei hält, aber ich bin auch Reporterin, ich bin in New York, und hier brennen die höchsten Häuser der Stadt. Ich muss an die Telefonnummer denken, die mir eine Frau aus dem Pekip-Kurs in Berlin in die Hand drückte, als sie erfuhr, dass ich mit meiner Familie nach Amerika aufbreche. Eine Bonner Nummer. Für Notfälle. Ich wählte die Nummer, ein Mann nahm ab, ich schilderte meine Situation. Der Mann am anderen Ende der Leitung sagte, es tue ihm leid, aber die Schulung für mitreisende Ehefrauen sei schon ausgebucht, sagte er. "Es gibt Schulungen für mitreisende Ehefrauen?",fragte ich. Ich hatte davon noch nie gehört. Ich wusste bis zu diesem Zeitpunkt nicht mal, dass es die mitreisende Ehefrau gibt, als Kategorie, als Problemgruppe mit Beratungsbedarf. Und selbst jetzt, da ich es wusste, wollte ich keine von ihnen sein. Das ist jetzt fast zwei Jahre her. Ich lächele meinen Mann an und sage: "Geh mal. Ich bleibe lieber hier mit Mascha." Alex nimmt mich erleichtert in die Arme. Er kann endlich los.

Ich küsse meine Frau und renne zu unserem Auto, das in der zweiten Reihe steht. Sie hat den Kopf leicht zurückgezogen, als ich sie küsste, eine winzige Geste der Missbilligung nur, aber ich habe sie verstanden, und sie weiß, dass ich sie verstanden habe. Ich bin nicht in Frieden gegangen, ich habe mich losgerissen. Ich gehe fast nie in Frieden.

Unser Haus kommt mir plötzlich sehr groß, sehr ruhig und sehr leer vor. Alex ist weg, ich bin wieder allein, nur die Spuren seines Aufbruchs sind noch da. Das offene Schuhregal, die ausgebreitete New York Times in der Küche, durchwühlte Regale in meinem Zimmer, herausgerissene Shirts in der Kleiderkammer, ein Handtuch auf dem Fußboden im Bad, die offene Tür zum Dach, es sieht aus, als wäre ein Einbrecher durchs Haus gegangen. Ich gieße den Kaffee ins Spülbecken, schließe den Schuhschrank und die Dachtür, ordne meine Unterlagen, hebe das Handtuch auf, lege die Shirts zurück in den Schrank. Langsam fühle ich mich besser.

Ich schlängele mich durch die kleinen Straßen von Boerum Hill. Es sei ein Anschlag auf Amerika, sagt das Radio. Auf den Bürgersteigen stehen Menschen und starren in den Himmel. Sie sind in ihrer schnellen Rushhour-Bewegung eingefroren worden wie der Hofstaat in Dornröschen. Das Telefon klingelt. Es ist Anja. Sie will wissen, wo ich bin, im Hintergrund klopft ein weiterer Anrufer an. Ich sage meiner Frau, dass ich einen Parkplatz brauche. Dann drücke ich sie weg, um mit dem Klopfer zu reden. Es ist ein Redakteur vom Spiegel. Er will wissen, wie die Lage ist, aber ich habe keine Ahnung. Ich brauche einen Parkplatz. Das ist die Lage. Der Redakteur ist dort drüben auf der anderen Seite des Atlantiks viel dichter dran als ich, aber das kann ich ihm nicht sagen. Es berührt meine Urangst als Reporter, immer am falschen Platz zu sein. "Ich bin gleich da", rufe ich dem Redakteur in Hamburg zu, aber ich glaube, die Verbindung ist schon wieder unterbrochen. Ich drücke auf dem Telefon herum. Auch Anja ist weg.

Es ist erst kurz vor halb zehn, fünf Stunden noch, bis ich unseren Sohn Ferdinand aus der Schule abholen muss, und Alex wird sicher auch eine Weile unterwegs sein. Ich beschließe, das Beste aus der Situation zu machen und ganz für Mascha da zu sein, heute an ihrem letzten Ferientag. Man könnte sagen, ich tue vorbeugend etwas gegen das schlechte Gewissen, bevor ich morgen bei Huggs wieder erklären muss, dass Mascha nicht drei, sondern sieben Stunden in den Kindergarten geht. Sie machen mich völlig fertig, diese vorbildlichen Halbtagsmütter und die Erzieherinnen, die mir am Ende des Tages kleine Botschaften zustecken, die Mascha ihnen angeblich diktiert hat. "Mom, where are you. I miss you." Wenn es um ihre Gefühle geht, spricht Mascha Englisch und imitiert dabei die weit aufgerissenen Augen und die übertriebene Gestik der amerikanischen Mädchen. Im Deutschen ist ihre Stimme tiefer und ruhiger, sie wirkt wie ein anderer Mensch. Meine Freundin Claudia, die Montessori-Lehrerin ist, hat mich mal darauf aufmerksam gemacht und jetzt, als ich in Maschas Zimmer gehe, fällt es mir wieder ein. Das Zimmer ist wie meine Tochter, halb deutsch, halb amerikanisch. Es gibt die Steiff-Ente aus dem alternativen Spielzeugladen in Charlottenburg, den großen Plüsch-Winnie-Pooh-Bär von Debbie, die Lotta-aus-der-Krachmacher-Straße-Kassette und die Dschungelbuch-CD. Das deutsche Spielzeug hat die Nase vorn, gerade noch so. Ich nehme die Tüte mit dem Bastelbogen vom Tisch, den wir aus Berlin mitgebracht haben.

Die Türme sind stärker beschädigt, als ich dachte. Die Löcher erinnern mich an Wunden. Es wird Monate dauern, bis man das wieder geflickt hat, denke ich. Von weitem sieht es nicht so aus, als könne ich zwischen all den Menschen, die aus dem Brückenausgang quellen, überhaupt in die andere Richtung laufen, aber als ich näherkomme, sehe ich, dass es klappen könnte. Das Problem sind die beiden bewaffneten, uniformierten Männer, die vor der Brücke stehen. "Manhattan ist geschlossen. Nur Hilfskräfte dürfen passieren", sagen die Männer. Aber aus irgendeinem Grund spüre ich einen Spielraum, eine winzige, weiche Stelle in der Haltung der beiden Männer. Wahrscheinlich ist das jetzt auch alles zu groß für sie, vielleicht haben sie Fragen, die mächtiger sind als ihre Regeln. Ich mache einen Schritt nach außen und laufe einfach an ihnen vorbei. "Hey", ruft einer der Männer. "Bleiben Sie stehen." Es klingt hilflos und verebbt zwischen den Menschen, die mir entgegenkommen.

Ich will fernsehen und hoffe, dass Mascha sich alleine mit dem Hampelmann beschäftigen kann, aber man muss die einzelnen Teile ausschneiden und zusammensetzen. Es gibt Haken und Glöckchen in der Tüte, das ist alles zu schwer für eine Dreijährige. Mascha nimmt die Kinderschere, ich die große. Sie soll das Bein ausschneiden, ich den Rest. Ich schneide noch das größte Teil aus, bevor ich wieder auf meinen Platz vor dem Fernseher zurückkehre.

Ich halte das Handy in der Hand für den Fall, dass Anja noch mal anrufen sollte. Ich laufe am ersten Brückenpfeiler vorbei, an dem die traurige Geschichte des deutschen Brückenbauers und seines Sohnes steht. Sie starben beide noch während der Konstruktion der Brooklyn Bridge. Wenn Anja jetzt anrufen sollte, würde ich ihr das sagen. Am Ende gleicht sich alles aus. Sie würde das vielleicht als Machospruch abtun, aber das könnte ich aushalten. Ich bin guter Dinge, denn ich bin auf der Brücke, auf dem Weg an das richtige Ufer. Aber sie ruft nicht an, und dann vergesse ich den Gedanken, weil der rechte der beiden Türme zusammenfällt.

Meine Freundin Debbie ruft an. Sie rät mir meinen Sohn sofort aus der Schule abzuholen. Ihr Sohn sitze bereits bei geschlossenen Fenstern in seinem Kinderzimmer. "Ich will den Teufel nicht an die Wand malen, aber es könnte Krieg geben", sagt Debbie. Sie legt auf. Krieg. Mit dem Wort kann ich nichts anfangen. Es hat nichts mit mir zu tun. Auch jetzt nicht. Sicher heulen dort drüben, wo Alex hinläuft, Sirenen. Aber die Sirenen kommen aus dem Fernseher. Hier bei mir ist es ganz still. Unser Kater hat Hunger. Dann hat Mascha Hunger. Ich mache Toast. Ich versuche, meine Mutter anzurufen, komme aber nicht durch. Bei Alex ist nur der Anrufbeantworter an. Ich gehe mit Mascha auf die Terrasse. Dann stürzt der Südturm ein. Dieses hohe stabile Gebäude, das nachts immer so schön leuchtet, einer von Ferdinands Lieblingswolkenkratzern, weg. Ich schlage die Hände vors Gesicht auf meinem Sofa im Wohnzimmer, mir laufen die Tränen über die Wangen. Ich wische sie weg.

Es ist ein Bild wie ein Seufzer. Einen Augenblick noch scheint sich der Turm gegen sein Schicksal zu stemmen, er zittert und wankt und bricht schließlich müde zusammen. Ein alter Boxer. Es klingt bescheuert, aber der Turm erscheint mir in diesem Moment wirklich menschlich, verletzbar, gebrechlich. Er war mit Menschen gefüllt, und die Menschen sind jetzt tot. Bis jetzt waren die Dinge zu reparieren, rückgängig zu machen, zu flicken wie die Schlaglöcher in den New Yorker Straßen. Das ist vorbei. Ich stehe mitten auf der Brücke, sehe auf die Wolke, in der der Turm versinkt, und bin nun, in diesem Moment, auch jemand aus dem eingeschlafenen Hofstaat Dornröschens, den ich vorhin aus meinem Auto beobachtet habe. Am Himmel donnert ein Düsenjäger. Die Menschen drängen mir entgegen, schneller jetzt. Die Starre ist vorbei. Wir sind in der Mitte der Brücke. Man ist verletzlich auf so einer Brücke. Vielleicht sollte ich besser umkehren, denke ich. Aber dann gehe ich weiter, auf den zweiten Brückenpfeiler zu, während der Staub sich langsam legt. Ich laufe auf den zweiten Turm zu, in dem die Antworten auf all die Fragen stecken, die mich umtreiben. Dieser Turm noch. Noch dieser Turm.