Parteitag in Berlin Parteitag in Berlin: SPD und eine Juso-Genossin verpassen Sigmar Gabriel Denkzettel
Berlin - Es dauert ein paar Minuten, bis Sigmar Gabriel seine Fassung wiedergefunden hat. Ein paar Vertraute müssen ihm auf dem Podium der Kongresshalle ernsthaft zureden. Manche fürchten, dass er seinen Posten aufgibt. Der ganze Vorstand hat versteinerte Mienen, als das Wahlergebnis verkündet wird. 620 Delegierte haben ihr Zettelchen in die Urne geworfen, nachdem das schöne neue elektronische Abstimmungssystem kurzerhand seinen Geist aufgegeben hat. Ganze 456 haben für Gabriel gestimmt. Das sind nach sozialdemokratischer Zählweise 74,2 Prozent und damit zehn Prozentpunkte weniger als vor zwei Jahren.
„Die Zeitungen werden morgen schreiben: Gabriel abgestraft“, meldet sich Gabriel nun am Rednerpult zu Wort. Wenige Stunden zuvor hat er den Medien vorgeworfen, die Politik oft zu negativ darzustellen. Jetzt setzt er hinzu: „Und das ist ja auch so.“ Kein Herumreden also. Das würde ohnehin nichts nutzen. Die Fassungslosigkeit im Saal wirkt lange nach. Schließlich sollte die Wahl das Signal des Delegiertentreffens sein: Während sich die Union streitet und CDU-Chefin Angela Merkel an Zustimmung verliert, ist die SPD geschlossen und stärkt Gabriel als Kanzlerkandidaten den Rücken.
Schock und Mitleid
In Windeseile schaltet Gabriel nun auf Angriff um. Den aus Schock und Mitleid applaudierenden Delegierten empfiehlt er, sich zu setzen: „Erst mit Nein stimmen und dann stehend klatschen geht nicht“, sagt er hart. „Jedem ist klar, was ich will“, setzt er fort. Einem Viertel gefalle der Kurs nicht: „Aber mit der Wahl ist es auch entschieden.“ Er deutet das Votum als Zustimmung auch zu seinen umstrittenen inhaltlichen Vorstellungen etwa zur Reduzierung des Zuzugs von Flüchtlingen und zur Abkehr von Steuererhöhungen um. „Das ist mit Dreiviertelmehrheit beschlossen. Und so machen wir es jetzt.“
Auch in der SPD-Spitze macht sich Bestürzung über das Abschneiden des Parteichefs breit. Sie steigert sich noch, als die Zahlen für die Stellvertreter bekanntgegeben werden: Alle schneiden besser ab als Gabriel, der zuvor eine 107-minütige Bewerbungsrede gehalten hat. „Irre“ sei das Ergebnis, sagt ein Mitglied der Parteispitze: „Komplett irre.“ Bei der Ursachenforschung gibt es eine Reihe von Erklärungen: Die Verärgerung über den Zickzack-Kurs des ersten halben Jahres gehört sicher dazu. Die zu lange Rede sicher auch. Und dann ist da noch die Sache mit Johanna Uekermann.
Die Juso-Vorsitzende hatte Gabriel vor ein paar Wochen geärgert, weil sie in der Flüchtlingspolitik CDU-Kanzlerin Merkel lobte, ihrem eigenen Parteichef aber eine Vier minus erteilte. Nun tritt sie auf dem Parteitag ans Pult, lobt Gabriel vorgeblich für seine gute Rede, um dann anzuschließen, leider könne sie die Worte Gabriels „nicht in Einklang bringen mit dem, was danach immer passiert“. Ihre Kritik wendet sich gegen Gabriels Einsatz für die Vorratsdatenspeicherung, die Grexit-Spielereien sowie seine Unterstützung für das Freihandelsabkommen TTIP.
Als der SPD-Chef sich anschließend zu Wort meldet, ahnen seine Getreuen schon Unheil. Gabriel und die Frauen – das ist ein schwieriges Thema. Erst kurz zuvor hat der 56-Jährige selbstkritisch eingeräumt, sein Fernseh-Duell mit ZDF-Korrespondentin Bettina Schausten sei nicht glücklich gewesen: Vielleicht müsse er lernen, „das eine oder andere Interview etwas gelassener zu geben“. Innerlich gelassen ist er nun zwar. Seine Empörung ist kontrolliert. Aber der Auftritt dürfte ihm trotzdem schaden.
Debakel zwischen Juso-Chefin und Gabriel
„Was Du gesagt hast, ist der schlimmste Vorwurf, den man einem Politiker machen kann“, ruft Gabriel seiner Vorrednerin hinterher. Er wertet die Ausführungen der Juso-Chefin als Angriff auf seine Integrität. „Die Partei hält einen solchen Umgang miteinander nicht aus“, wettert er. Es sei es nicht geschickt gewesen, sich noch mal zu Wort zu melden, urteilen einzelne Delegierte.
Vielleicht aber musste sich auch so etwas wie ein Temperamentsstau lösen. Staatsmännisch und größtenteils ruhig hatte Gabriel zuvor seine eigentliche Parteitagsrede vorgetragen. Das Delegiertentreffen finde in ernsten Zeiten statt, hatte er mit Blick auf die Terror-Gefahr, die Flüchtlingsströme und die Krise Europas gesagt. Gabriel kann ein begnadeter Redner sein. Doch so richtig ist an diesem Tag der Funke nicht übergesprungen.