Ostdeutsche Plattenbauten Ostdeutsche Plattenbauten: Welche Perspektive haben Siedlungen wie Halle-Neustadt?

Halle/MZ - Dinge aus der Distanz zu betrachten, führt manchmal zu überraschenden Erkenntnissen. Zum Beispiel zu der, dass Halle-Neustadt keine abgehängte Betonwüste ist. Der Blick von der Terrasse im 18. Stockwerk der „Scheibe D“, ein Hochhaus im Zentrum Neustadts, fällt auf erstaunlich viel Grün, allerlei schicke und bunte, weil sanierte, und allerlei graue, weil unsanierte Wohnblöcke. Und mittendrin das „Neustadt-Centrum“, ein Einkaufszentrum, das sich wie ein Schiff in das Meer der Plattenbauten schiebt.
Ob Halle-Neustadt, Wolfen-Nord, Leipzig-Grünau oder Jena-Lobeda - den Großsiedlungen in Ostdeutschland ist nach der Wende vor allem eines prophezeit worden - dass sie zu Vorstädten verkommen, in denen nur noch Armut, Kriminalität und Gewalt herrschen. „Glücklicherweise ist das nicht eingetreten“, sagt Lars Loebner. Doch nun sieht der Leiter des Fachbereichs Planen in der halleschen Stadtverwaltung die Plattenbaugebiete an einem „Scheideweg“.
Altersdurchschnit: 47 Jahre
Der Wandel, den die Siedlungen seit der Wende durchgemacht haben, hieß vor allem: Schrumpfung. Halle-Neustadt hat rund die Hälfte seiner Einwohner verloren, von einst 97.000 auf 44.600. Der Altersdurchschnitt liegt bei 47 Jahren, zwei Jahre mehr als insgesamt in Halle. Dass der Stadtteil nicht abgerutscht ist, verdankt er laut Loebner nicht nur Unmengen an öffentlichen Fördermitteln und Quartiersmanagement. Sondern auch dem „harten Kern“ seiner ersten Bewohner, von denen immer noch viele da sind. Und bleiben wollen. Aber sie werden weniger. In Neustadt und anderswo. „Jetzt“, sagt Loebner, „entscheidet sich, wie es weiter geht mit den Großsiedlungen.“
„Um die Alten müssen wir nicht kämpfen“, sagt Jana Kirsch. „Die Frage ist, wie wir die jungen Familien hierher kriegen.“ Die Quartiersmanagerin zählt auf: Parks, Kitas, soziale Angebote, das habe sich alles stark entwickelt. Doch Familien wollen auch preiswerte, attraktive Wohnungen.
Quedlinburger Weg: Lutz Haake steht vor einer Baustelle. Der Vorstand der Bau- und Wohnungsgenossenschaft Halle-Merseburg erläutert, wie aus einem Fünf- ein Dreigeschosser wird, mit stufenlosen Zugängen zu den Wohnungen im Erdgeschoss, mit Terrassen und Balkonen. Auf der Entwurfszeichnung sieht das Haus aus, als wäre es ein Neubau. Die Genossenschaft macht hier aus der Not eine Tugend - weg mit den beiden obersten Geschossen, weil dort mangels Aufzügen ohnehin kaum noch jemand gewohnt hat. An einem anderen Block hängt das Unternehmen ab der dritten Etage Laubengänge vor die Fassade. Darüber und über einen großen Fahrstuhl sind die Wohnungen von außen erreichbar, ohne Treppen. „Barrierefrei“ heißt das Schlüsselwort.
Es geht dabei nicht um altengerechtes Wohnen - ein Begriff, den Haake nicht mag. Er nennt es lieber „demografiefest“. Ob man einen Aufzug einbaue für einen Rollator oder einen Kinderwagen, das, meint er, sei doch am Ende egal.
Günstige Mietpreise
Es ist nicht so, dass nicht auch junge Familien leben würden in Halle-Neustadt - einige Viertel können sogar Zuzug verbuchen. Doch häufig handele es sich um Menschen, die ihr geringes Arbeitseinkommen mit Hartz IV aufstocken müssten, schildert Planungschef Loebner. Am Ende ist es eine einfache Rechnung: Die Mieten in Neustadt sind zum Teil günstiger als in der Altstadt oder in begehrten Altbauvierteln. Doch Loebner warnt: Es dürfe nicht sein, dass diejenigen, die sich die teureren Viertel nicht mehr leisten könnten, nach Neustadt zögen und umgekehrt.
Es ist ein Balanceakt. Einer, für den es immer weniger Geld gibt. Zwischen 2002 und 2011 sind in Halle-Neustadt rund 4 .00 Wohnungen abgerissen worden. Abriss bleibe ein Thema, sagt Loebner, „aber die finanziellen Anreize fehlen“. Bisher bekamen ostdeutsche Wohnungsunternehmen beim Abriss von Gebäuden vom Bund ihre Altschulden aus DDR-Zeiten erlassen. Doch diese Regelung läuft Ende des Jahres aus. Der Landesverband der Wohnungsgenossenschaften droht damit, dass Unternehmen auf Abriss verzichten werden, wenn sie auf den Schulden sitzen bleiben. Damit aber würde der Stadtumbau ins Stocken geraten. Verbandsdirektor Ronald Meißner appelliert an die Politik, bis bisherige Regelung beizubehalten. Sachsen-Anhalts Bauminister Thomas Webel (CDU), gestern zu Besuch in Halle-Neustadt, ist vorsichtig optimistisch: Der Bund habe ein Gutachten zu dem Thema in Auftrag gegeben. „Wenn die Ergebnisse vorliegen, will man noch einmal mit den Ländern reden.“ Heißen muss das nichts.
Halles Chefplaner Loebner warnt davor, die Großsiedlungen in dieser unsicheren Situation schlechtzureden. „Wir dürfen die Gebiete nicht stigmatisieren.“ Vielleicht ist das das größte Problem von Halle-Neustadt, Leipzig-Grünau und Co - das Image.