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Odenwaldschule Odenwaldschule: Die Schutzmauer

Von Jörg Schindler und Steven Geyer 12.03.2010, 19:09

Frankfurt/M. - „Mit großem Unverständnis und Bedauern“ habe man zur Kenntnis genommen, dass Becker in den Vorstand der Lietz-Schulen zurückkehren solle, schreiben die zwölf Lehrer. Sie erinnern daran, dass Becker gut zwei Jahre zuvor öffentlich des sexuellen Missbrauchs bezichtigt wurde und die Vorwürfe noch immer „nicht eindeutig aufgeklärt“ sind. „Gerade weil Schule ein sehr sensibler Bereich ist“ möge der Vorstand die Entscheidung überdenken.

Die Antwort – sie liegt der Frankfurter Rundschau vor – erfolgt zehn Tage später. An der Entscheidung sei nicht zu rütteln, schreibt der Vorsitzende der Lietz-Schulen, Jan Rüggeberg. Er habe mit Becker vor Jahren persönlich gesprochen, dieser habe versichert, dass die Vorwürfe „unzutreffend und für ihn unerklärlich sind“. Und: „Für den Vorstand gilt das Wort eines bewährten Kollegen mehr als ein reißerischer Artikel in einer Tageszeitung!“So kehrt im Frühjahr 2002 der gefeierte Pädagoge Becker nach einer Schamfrist von 28 Monaten in den Schoß der Lietz-Schulen zurück. Im Vorstand kann er wieder mitbestimmen über die Geschicke von Schloss Bieberstein, Schloss Hohenwehrda (beide in Hessen) und die Hermann-Lietz-Schule Haubinda (Thüringen).

Bis zum heutigen Tag ist der inzwischen schwer kranke Pädagoge Mitglied im Vorstand. Dort sitzt auch Wolfgang Harder, Beckers Nachfolger als Leiter der Odenwaldschule (OSO). Ganz so, als sei nie etwas gewesen.

Aber da war etwas. Am 17. November 1999 hatte die Frankfurter Rundschau erstmals darüber berichtet, dass Gerold Becker in den 70er und 80er Jahren regelmäßig Odenwaldschüler missbrauchte. Die Schule selbst, die schon seit Mitte 1998 von den Vorwürfen wusste, schien keinen Zweifel zu haben. „Vorstand und Schulleitung müssen ... davon ausgehen, dass die Vorwürfe berechtigt sind“, ließ sie am 18. November 1999 wissen. In ihrer Erklärung hieß es zudem: „Gerold Becker hat auf Rückfragen den Vorwürfen nicht widersprochen und seine Funktionen und Aufgaben im Trägerverein, im Förderkreis der Odenwaldschule und in der Vereinigung der deutschen Landerziehungsheime niedergelegt.“

Die Sache schien also eindeutig. Ein Elite-Pädagoge hatte sich an Kindern vergriffen und war nun abgetaucht. Vermutlich würde man nie wieder von ihm hören. Die Odenwaldschule zeigte sich geschockt und versprach Aufklärung. Dann passierte: fast nichts. Das ganze Ausmaß des Skandals, in den mutmaßlich etliche weitere Lehrer verstrickt sind, wird erst jetzt – zehn Jahre später – allmählich bekannt. Wieso? Wer wusste etwas und sagte nichts? Warum blieben Taten unbeachtet, die 1998 womöglich noch nicht verjährt gewesen wären? Und wie konnte es Gerold Becker – dem charmanten und eloquenten Theologen mit den fragwürdigen Neigungen – gelingen, nach einer kurzen Schamfrist wieder in die angesehensten Pädagogikkreise Deutschlands zurückzukehren? Wer half im dabei?

Nachdem die FR 1999 berichtet hatte, drang eine Welle der Empörung aus dem Odenwald. Sie galt allerdings weniger dem Pädagogen als der Zeitung, die ihn als Sexualtäter entlarvt hatte. „Sensationsjournalismus“, geißelte das Parlament der Odenwaldschule und forderte von der FR „im Namen der Schülerschaft“, auf weitere Artikel zu verzichten. OSO-Lehrer –auch solche, die derzeit von Altschülern belastet werden – sprachen von „Rufmord“. Der Altschülerverein, der heute schonungslose Aufklärung verlangt, hielt sich auffällig bedeckt. Bis auf sein damaliges Vorstandsmitglied Florian Lindemann.

Lindemann, seinerzeit auch tätig für das Altschülerheft „Goetheplatz“, schrieb ebenfalls einen Brief. Er sprach vom „Missbrauch des Missbrauchs“ und „profilbedürftigen“ Journalisten. Den „pädophilen Schulleiter“ setzte er in Anführungszeichen – über die eigentlichen Vorwürfe und darüber, wie man sie aufklären wolle, schrieb er nichts.Mit der Aufklärung war es überhaupt so eine Sache. Denn Becker hatte es seit seinem Abschied von der OSO 1985 zu allerlei prestigeträchtigen Posten gebracht: Er war Vorstandschef der Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime, leitender Mitarbeiter am Institut für Bildungsplanung und Schulentwicklung des Hessischen Kultusministeriums, vertrat als Theologe bei schulischen Fachgesprächen mit dem Land die Evangelische Kirche (EKD). Noch 1998, als eins seiner Opfer ihn erfolglos konfrontiert und bereits die OSO um Hilfe gebeten hatte, trat Becker als Mitglied der EKD-Kammer für Bildung und Erziehung auf. Diejenigen, die von den Vorwürfen wussten, schwiegen derweil. Ja, er habe Becker nochgetroffen, als die Vorwürfe schon bekannt waren, sagte jetzt etwa der Bestsellerautor, Ex-OSO-Lehrer und einstige Salem-InternatsleiterBernhard Bueb dem Stern. Er habe seinen „Freund“aber nie darauf angesprochen. Das hätten ihm Takt und Respekt verboten.

Auch Beckers Nachfolger als OSO-Leiter, Wolfgang Harder, sah keinen Grund, einzuschreiten. 1983, als Harder als Lehrer an die Schule kam, war er bereits ein langjähriger Weggefährte Beckers. 1985 wurde er dann dessen Nachfolger als Rektor. Schon damals, sagt die aktuelle OSO-Leiterin Margarita Kaufmann, habe es Hinweise auf sexuelle Übergriffe von Becker gegen Schüler gegeben. Harder, der später Initiator der viel gerühmten „Blick über den Zaun“-Schulen wurde, sei dem nicht nachgegangen. Das war „aktiver Täterschutz“, so Kaufmann.

„Ich weiß nicht, was sie damit meint“, sagte Harder am Freitag der FR. Er habe erst im Juni 1998, als sich die ersten betroffenen Altschüler an die OSO wandten, von den Vorwürfen gegen Becker erfahren. Warum hat er nicht die Ermittlungsbehörden eingeschaltet? „Wir haben damals gesagt, dass wir das intern aufklären“, so Harder. Die Taten seien ja seinerzeit bereits verjährt gewesen. Der Anwalt eines der Becker-Opfer ist sich da nicht so sicher.

Harder ließ auch nach 1999 den Kontakt zu Becker nie abbrechen. Nicht nur gehören beide bis heute zum Vorstand der Lietz-Schulen. Nachdem Harder die OSO 1999 verlassen hat, war er unter anderem Moderator der Bremer Bildungstage 2003 – als Referent damals mit dabei: Gerold Becker. 2005 wurde Becker dann zum „externen Berater“ des „Runden Tisches Bildung“ in Bremen – der von Wolfgang Harder geleitet wurde. Im selben Jahr erschien im Beltz-Verlag das Buch „Bewährung“ von Beckers Lebensgefährten Hartmut von Hentig, dem großen alten Mann der Reformpädagogik. Als „Berater“ für das Buch hob von Hentig unter anderen Gerold Becker, Wolfgang Harder und Ingo Richter hervor.

Professor Ingo Richter war lange Jahre Leiter des Deutschen Jugendinstituts – und er ist der Ehemann von Sabine Richter-Ellermann, die bis heute Vorstandsvorsitzende des Trägervereins der Odenwaldschule ist. Richter gehörte dem Kuratorium der Freudenberg-Stiftung an, die seit Jahren personell eng mit der Odenwaldschule verflochten ist und diese finanziell unterstützt hat. Zu den Projekten, welche die Stiftung zwei Jahre nach den Berichten über den Sexualtäter Gerold Becker förderte, zählte das Hertener Symposium „Jugendarbeitslosigkeit“. Moderator der Veranstaltung war Gerold Becker. Zu den Beratern der Freudenbergstiftung wiederum zählten mindestens bis zum Jahr 2004 der OSO-Altschüler Florian Lindemann und Meto Salijevic. Letzterer ist bis heute OSO-Geschäftsführer und Vorstandsmitglied.

Tat die Odenwaldschule also wirklich alles für die Aufklärung? Hielten sich wirklich alle an die Verabredung, Veranstaltungen mit Gerold Becker künftig fern zu bleiben? Man darf es bezweifeln.

Es gab Menschen, denen die schleichende Rückkehr Beckers in den Pädagogen-Olymp gewaltig gegen den Strich ging. Zu ihnen gehört der ehemalige OSO-Lehrer Salman Ansari, der zu Beckers Zeit an der Schule war und sich bis heute Vorwürfe macht, weil er nichts bemerkt habe. Umso engagierter zeigte sich Ansari nach 1999. Im Jahr 2002wies Ansari den OSO-Vorstand darauf hin, dass Becker gerade eine Schülerschrift zum Thema „Körper“ herausgegeben hatte. Von der Vorsitzenden Richter-Ellermann habe er erwartet, dass sie Protest beim verantwortlichen Friedrich Verlag einlegt, sagt er heute. Am 12. November 2002 schrieb Richter-Ellermannan Ansari: Über eine Rückkehr Beckers als Publizist „ „haben wir nicht zu entscheiden.“ Und: „Wäre Ihnen der Text aufgefallen, wenn Gerold Becker ihn nicht mit unterzeichnet hätte?“

Empört wandte sich daraufhin Ansaris Sohn an die „Neue Sammlung“ des Friedrich Verlags. Der ließ ihn abblitzen. In einer Antwort vom 26. November, die der FR vorliegt, schrieb die zuständige Redakteurin: Man wisse von den Vorwürfen gegen Becker, sie seien in einem Artikel „von fragwürdiger journalistischer Qualität“ erschienen. Aber: „Welche Neigungen die Herausgeber unserer Zeitschriften haben, interessiert mich nicht, solange sie nicht zu strafbaren Handlungen führen.“Vertuschen, Wegsehen, Ignorieren. So ging es über all die Jahre. Und so konnte Becker wiederkehren, als deutschlandweit gefeierter Reform-Pädagoge. Stets verlassen konnte er sich dabei weiterhin auf seinen Freund und Förderer Hartmut von Hentig. Der vertraute noch in dieser Woche der Süddeutschen Zeitung an, dass er Becker für den größten Pädagogen der Gegenwart halte.

Becker schrieb weiter ungehindert neue Bücher und Aufsätze, die großen Anklang in der Pädagogikszene fanden. Er beriet den Landeselternbeirat Brandenburg über „Arbeits- und Sozialverhalten“ und referierte beim Reformschultreffen in Hamburg über „gute Schule“. Vom Deutschlandfunk wurde er zu einer Studiodiskussion mit der damaligen Bundestags-Vizepräsidentin Antje Vollmer geladen. Das Thema damals: „Vertrauen“.

Auch in Hessen war Gerold Becker weiterhin ein gern gesehener Ratgeber. Nach den Vorwürfen 1999 stellte zwar das hessische Kultusministerium seine Zusammenarbeit mit dem Pädagogen ein. Aber die renommierte Unesco-Projektschule „Helene Lange“ in Wiesbaden durfte Becker späterunbeanstandet betreuen. Mit ihr und vor allem mit ihrer Direktorin, der angesehenen Pädagogin Enja Riegel, verbindet Becker eine lange Kooperation samt gemeinsamen Studien und Buchprojekten.„Ich war geschockt“, sagte Riegel im Wiesbadener Kurier vom Donnerstag über ihre Reaktion auf die ersten Vorwürfe Ende der 90er Jahre. Sie habe die Zusammenarbeit sofort beendet. „Becker hat es abgelehnt, über die Vorwürfe zu sprechen.“

Doch auch Riegel, heute in Pension, vergaß anscheinend: 2004 bat sie Becker um das Lektorat ihres neuen Buchs. Die Verfehlungen seien ja nie ganz erwiesen gewesen, begründet sie das heute. Und sie habe sein Wissen und seinen Rat eben sehr geschätzt. Zu ihrem heutigen Verhältnis zu Becker will Riegel nichts sagen: „Herr Becker liegt im Sterben.“