Nach Merkels Ankündigung Nach Angela Merkels Ankündigung: Eine 20-jährige Ära neigt sich dem Ende zu

Berlin - Zehn Minuten braucht Angela Merkel, um 18 Jahre zu beenden. Aber innerhalb dieser zehn Minuten braucht es ein wenig Anlauf. Sie sagt nicht einfach: Ich trete zurück. Sie leitet her, sie erzählt eine Geschichte, und diese beginnt mit dem Begriff „die nackten Zahlen“.
Die nackten Zahlen aus Hessen nämlich seien enttäuschend, sagt Merkel, und es gebe ein Problem, nämlich, dass das nicht das einzige sei. Da sei die Bundestagswahl, der Streit zwischen CDU und CSU, die lange Regierungsbildung, das Scheitern der Bemühungen um Jamaika und nun eben diese Wahlergebnisse. Da könne man nicht zur Tagesordnung übergehen.
„Zeit für ein neues Kapitel“
Das mit der Tagesordnung hat sie schon öfters gesagt. Jetzt kommt aber ein neuer Satz: „Wir müssen innehalten“, sagt sie. Auch sie persönlich betreffe das. Der Abschied von der Parteispitze gehört dazu. „Es ist Zeit, ein neues Kapitel aufzuschlagen.“
Sie werde nicht als Parteivorsitzende kandidieren auf dem Parteitag. Pause. Und bei der nächsten Bundestagswahl werde sie nicht erneut als Kanzlerkandidatin antreten. Ihre Stimme ist fest, aber das, was sie sagt, hat sie vor sich auf einem Papier stehen. Auch Merkel braucht in den historischen Momenten ein Gerüst zum Festhalten.
Während Merkel das vorträgt, blicken Mitarbeiter und Parteifreunde von den Balkonen des Konrad-Adenauer-Hauses in den Innenhof hinunter und schweigen. Es scheint, als gebe es keine angemessene Emotion für das, was sich da gerade abspielt. Denn hier geht an diesem Montag um halb zwei ein Stück deutscher Geschichte zu Ende.
Die heute 20-Jährigen kennen nur eine Kanzlerin
Mit der Ankündigung des Rückzugs von Angela Merkel beginnt die Schlussphase einer Epoche. Angela Merkel ist für die heute 20-Jährigen das, was Helmut Kohl für die 40-Jährigen war: Die einzige Kanzlerin, die man kennt. Auf Merkels ersten internationalen Gipfeln saßen noch Bush, Chirac und Blair und in den folgenden Jahren unzählbar viele weitere Namen.
Es schien, als würden alle irgendwann gehen – nur Merkel nicht.
Spätestens seit der vergangenen Bundestagswahl hat sich dieser Eindruck verändert. Schon direkt nach der Flüchtlingskrise des Jahres 2015 schien Merkel nicht mehr unangreifbar.
Aber die Auseinandersetzungen dieses Jahres und der Absturz der Union bei den Landtagswahlen hat Merkel und die Sicht auf sie verändert. Es schien keinen Weg ins sanfte Fahrwasser für sie mehr zu geben; die Kanzlerin, die nie polarisieren wollte, war plötzlich im Mittelpunkt jeder Auseinandersetzung.
Merkels Abschied hat zugleich die Debatte um die Nachfolge eröffnet. Noch im Parteivorstand am Montag kündigten Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer und Gesundheitsminister Jens Spahn ihre Kandidatur für den CDU-Vorsitz an, auch der frühere Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz will kandidieren.
Es ist die Auseinandersetzung verschiedener Politikentwürfe und Strömungen, mit den Kandidaten wird auch ein Stück weit über Angela Merkels Erbe entschieden. Sie hat die Partei so weit in die Mitte gerückt wie niemand vor ihr und damit zugleich das Entstehen einer Partei rechts von der Union zugelassen. Merkel glaubt an den Weg der Mitte – doch tut die Union das auch? Oder setzt sich ein konservativerer Kurs durch? Was bleibt also nach 18 Jahren von Angela Merkel?
Ahnengalerie der CDU-Chefs
Wer ein Gefühl dafür haben will, wie weitreichend die Entscheidung dieses Montags ist, der muss mit dem Fahrstuhl auf die Galerie des Konrad-Adenauer-Hauses in den fünften Stock fahren. In der Parteizentrale hängt die Ahnengalerie der CDU-Vorsitzenden, es ist eine überraschend kurze Fotoreihe. Gerade sechs Köpfe hängen hier, vier davon waren Kanzler. Angela Merkels Bild hängt noch nicht in dieser Ahnenreihe, doch bald ist auch sie eine Ehemalige.
Ein schwieriges, ein dramatisches Jahr liegt hinter Merkel. Spät hat sie sich für eine erneute Kandidatur entschieden, ein Jahr vor der Bundestagswahl. Sie habe es sich nicht leicht gemacht, hat sie damals betont. Vielleicht hätte sie auch gerne aufgehört: Aber Donald Trump hatte gerade die Wahl gewonnen und das versprach wenig Gutes.
Die Union hatte sich in der Flüchtlingspolitik zerlegt und die Risse waren nicht gekittet. Großbritannien hatte sich für einen EU-Austritt entschieden. Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein, das waren die Vokabeln, die im Merkel-Lager oft gewählt wurden.
Es kam der Bundestagswahlkampf und der war brutal. „Merkel muss weg“, brüllten Pegida- und AfD-Anhänger, wo immer die Kanzlerin auftauchte. Die Trillerpfeifenkonzerte machten die Veranstaltungen unerträglich. Mühsam hatten sich CDU und CSU zu einem Kompromiss in der Flüchtlingspolitik zusammengerauft, aber der hielt nicht lange.
Die Union gewann die Wahl, allerdings mit einem schlechten Ergebnis, ein Absturz um neun Prozentpunkte im Vergleich zur Wahl 2013. Dass der Absturz auch so dramatisch war, weil die CDU mit Merkel 2013 fast die absolute Mehrheit geholt hätte, war in der CDU kein Thema. Sechs Monate dauerte die Regierungsbildung dann.
Gescheitertes Jamaika-Projekt
Die FDP ergriff nach vier Wochen die Flucht und gab dafür Merkel die Schuld. Um doch noch eine Regierung zu bekommen, verzichtete Merkel für ihre Partei auf wichtige Ministerien. Von einem „neuen Zusammenhalt“ für die Gesellschaft sprach Merkel, als sie dann im März endlich wieder als Kanzlerin vereidigt war. Davon war wenig zu spüren: Kurz später war der nächste Streit mit der CSU da, und der wurde existenziell.
Im Sommer dieses Jahres hatte die CSU ihr Stichwort „Obergrenze“ gegen das der „Zurückweisungen an der Grenze“ getauscht. Die Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU stand auf der Kippe, Seehofer griff Merkel persönlich an: Mit dieser Frau könne er nicht mehr arbeiten. Wenn man Merkel glaubt, hat sie sich irgendwann in dieser Zeit entschlossen, nicht wieder anzutreten.
Nach einer etwas ruhigeren Sommerpause setzte der nächste Kampf ein – diesmal um Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen. Die Diesel-Affäre, um die sich die Regierung lange nicht gekümmert hatte, wurde mit einem eiligen Kompromiss für beendet erklärt, und war es nicht, weil der Kompromiss nicht verständlich war.
Gesundheitsminister Jens Spahn geht noch am Wahlabend im ZDF in Kampfstellung, vorsichtig, aber vernehmbar: Elf Prozentpunkte Verlust in Hessen, der Rückschlag der CSU in Bayern und die Umfragewerte im Bund seien nicht mit der Freude über den Ministerpräsidentenposten in Hessen wegzuwischen, erklärt er. „Das ist mehr als eine kleine Delle, das ist ein strukturelles Problem.“ Er nimmt den Namen Merkel nicht in den Mund, aber er zielt dennoch auf sie: „Man darf Debatten nicht einfach für beendet erklären“, sagt er.
Die Ankündigung des Umbruchs kommt dann aus Baden-Württemberg. Schon vor zwei Wochen hatte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble zweideutig gesagt, Merkel werde wohl zur Parteivorsitzenden gewählt werden – wenn sie antrete. Am Wahlabend verkündet Vize-CDU-Chef Thomas Strobl, Schäubles Schwiegersohn, freudestrahlend, über den Parteivorsitz werde man spätestens am Montag sprechen.
Philipp Amthor ist am Montagmorgen einer der wenigen, der sich nach vorne wagt. Im Deutschlandfunk sagt der junge Bundestagsabgeordnete, dass eine sorgfältige Debatte notwendig sei. Vor der CDU-Zentrale, in dem am Morgen das Präsidium zusammenkommt, herrscht gespanntes Schweigen.
Auch Ministerpräsidenten, die sonst gerne noch mal ein paar Sätze sagen, eilen wortlos nach drinnen. Nur EU-Kommissar Günter Oettinger meldet sich zu Wort: „Ich halte viel davon, dass Merkel nochmal antritt“, sagt er. Deutschland müsse stabil bleiben, Personalwechsel seien keine gute Idee.
Und wie wäre es mit Ämtertrennung? „Der Parteivorsitz ist eine hervorragende Ergänzung zum Kanzleramt“, sagt Oettinger. Ein paar Minuten später verkündet die Kanzlerin drinnen ihren Beschluss.