MZ-Serie zur Gerechtigkeit MZ-Serie zur Gerechtigkeit: Mit 65 ist für viele Menschen noch nicht Schluss

Halle (Saale)/MZ - Rolf Keune ist gelernter Schlosser. Seit mehr als 25 Jahren arbeitet er bei der Midewa - der Wasserversorgungsgesellschaft in Mitteldeutschland. Als Monteur war er bei Wind und Wetter unterwegs. Die Arbeit ist körperlich anspruchsvoll. Sie geht im wahrsten Sinne des Wortes auf die Knochen. Und das spürte auch Rolf Keune. Nach mehreren Erkrankungen war ihm klar: Bis zur Rente schaffst du es auf dieser Stelle auf keinen Fall. Blieb ihm also nichts weiter übrig als vorzeitig aus dem Beruf auszusteigen und bei der Rente hohe Abschläge hinzunehmen?
Jeder Monat, den die Rente vorzeitig in Anspruch genommen wird, schmälert sie um 0,3 Prozent. Ein Leben lang. 2011 sind laut Statistik der Rentenversicherung 73,8 Prozent der Ost- und 43,3 Prozent der Westdeutschen mit mehr oder weniger hohen Abschlägen in Rente gegangen - sicher nicht alle freiwillig. Und nun, da die Rente mit 67 greift, die bis 2029 schrittweise eingeführt wird, fürchten die Gewerkschaften, dass sich diese Zahlen noch deutlich erhöhen. „Die Rente mit 67 ist ein Rentenkürzungsprogramm“, sagt Almut Kapper-Leibe, von der IG-Metall-Verwaltungsstelle Halle-Dessau.
Ein finanzieller Anreiz
Martin Gasche kann sich dagegen gut vorstellen, bis 67 zu arbeiten. Er ist Wissenschaftler. Sein Schreibtisch steht am Münchner Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik. Dort beschäftigt er sich mit der Altersvorsorge und ist ein Verfechter der Rente mit 67. „Sie ist ein finanzielle Anreiz, die Erwerbszeit auszudehnen. Und wenn die Menschen das machen, vermeiden sie Abschläge“, so sein Standpunkt. „Mit den zusätzlichen Erwerbsjahren erwerben sie zugleich höhere Rentenansprüche. Insofern könnte die Rente mit 67 sogar als ein Rentenerhöhungsprogramm angesehen werden.“
Für Schwerarbeiter ein Rentenkürzungsprogramm, für Schreibtischarbeiter ein Rentenerhöhungsprogramm - ist das gerecht? Almut Kapper-Leibe winkt ab. Sie verweist darauf, dass es die überwiegende Mehrheit der Menschen nicht einmal bis zur derzeit gültigen Regelaltersgrenze (65 Jahre plus zwei Monate) schafft. „Wir verzeichnen inzwischen in vielen Bereichen, auch in denen, wo nicht unbedingt schwere körperliche Arbeit verrichtet wird, eine massive Leistungsverdichtung. Die Personaldecken werden immer dünner und die Belastungen - vor allem die psychischen - immer größer“, unterstreicht sie. Viele Menschen könnten sich nicht vorstellen, unter solchem Druck bis zum Alter von 67 Jahren zu arbeiten. Eine Beschäftigtenbefragung im IG-Metall-Bezirk Niedersachsen und Sachsen-Anhalt im August stützt ihre Aussage. Die Frage, ob sie glaubten, ihre Arbeit bei gleich bleibenden Anforderungen bis zum gesetzlichen Rentenalter von über 65 Jahren auszuüben, beantworteten 46 Prozent mit Nein, wahrscheinlich nicht. 22 Prozent konnten es noch nicht abschätzen.
Umfrage hin oder her: Rentenexperte Martin Gasche sieht, was die Rente mit 67, angeht bei den Gewerkschaften ein wenig Schwarzmalerei: „Gewerkschaften argumentieren, dass man in diesem Alter nicht mehr fähig ist, zu arbeiten.“ Es werde immer der Dachdecker bemüht, der nicht mehr aufs Dach könne. „Im Einzelfall stimmt das sicher“, unterstreicht er. Im Durchschnitt würden die Menschen aber immer älter und gesund älter. „Gleichwohl: Wenn einer nicht mehr arbeiten kann, gibt es in Deutschland immer noch Instrumente und Möglichkeiten, ihn aufzufangen. Er bekommt dann gegebenenfalls Erwerbsminderungsrente“, fügt Gasche hinzu.
IG-Metall-Frau Kapper-Leibe hält dagegen: Für Betroffene sei das eben oft keine Lösung. „Viele Menschen, die der beruflichen Belastung nicht mehr standhalten, stehen an einem Scheideweg“, sagt sie. „Sie sind noch kein Fall für die Erwerbsminderungsrente, können aber auch nicht mehr voll erwerbstätig sein.“ Sie befänden sich in einer Grauzone, sagt die Gewerkschafterin und plädiert für Modelle, die einen flexiblen Übergang in den Ruhestand ermöglichen. Da ist sie durchaus mit Gasche einer Meinung. Auch er ist dafür, einen „gleitenden Übergang in den Ruhestand zu organisieren“. Womit die Gemeinsamkeiten schon wieder enden. Die IG Metall will eine Neuregelung der Altersteilzeit. Sie solle wieder aus Mitteln der Bundesagentur für Arbeit gefördert werden. Das lehnt der Wissenschaftler ab: Gleitender Übergang heißt für ihn, Arbeit und Rente zu kombinieren - in Form einer flexiblen Teilrente.
Fakt ist, dass das Renteneintrittsalter steigt. In Sachsen-Anhalt betrug es 2003 im Durchschnitt etwa 61 Jahre. 2012 waren es bereits mehr als 63 Jahre. Das liegt ganz sicher daran, dass die Möglichkeiten der Frühverrentung stark eingeschränkt worden sind. Zum anderen macht sich der Fachkräftemangel bemerkbar. „Die Unternehmer merken, dass die demografische Entwicklung zuschlägt, dass sie nicht mehr auf ältere Arbeitnehmer verzichten können“, sagt Gasche. Entsprechend seien viele dabei, Arbeitsplätze und Arbeitsabläufe altersgerecht zu gestalten.
Die Midewa ist dafür ein gutes Beispiel. Das Durchschnittsalter der Beschäftigten beträgt 46 Jahre - inklusive Azubis und Bachelor-Studenten. Ohne die wäre es weitaus höher. Geschäftsführer Thiébauld Mittelberger sieht darin eine große Herausforderung für das Unternehmen - und eine große soziale Verantwortung. Von den etwa 400 Beschäftigten leisteten etwa 150 schwere körperliche Arbeit, erzählt er. Sie sind auf den Baustellen in ganz Mitteldeutschland unterwegs, heben Gräben aus, verlegen Rohre und anderes mehr. Viele seien - wie Rolf Keune - schon sehr lange dabei. Verschleißerscheinungen blieben da nicht aus, sagt der Geschäftsführer. Aber wenn der Körper nicht mehr mitspiele, könne man die Leute nicht einfach vor die Tür setzen. Mittelberger schüttelt den Kopf. „Wir müssen die Leute mitnehmen. Sie haben Kenntnisse, die dem Unternehmen nicht verloren gehen dürfen“, unterstreicht er. Zumal es auch immer schwerer werde, geeigneten Nachwuchs zu finden. Was also tun? Die Midewa startete 2009/2010 eine „Kompetenzanalyse Monteure 45+“. Sie schloss Monteure aller Niederlassungen ein, die älter als 45 Jahre waren. Zu dem Zeitpunkt immerhin 70 Prozent. Sie wurden befragt, ob sie der Meinung seien, die zum Teil schwere körperliche Arbeit auch in späteren Arbeitsjahren bewältigen zu können. Das Ergebnis war wenig überraschend: 66 Prozent erklärten, dass sie sich körperlich nicht in der Lage sehen, bis zum Rentenalter ihrer derzeitigen Tätigkeit in vollem Umfang nachzugehen. Viele suchten bereits nach beruflichen Alternativen.
Die sollten einige auch im eigenen Unternehmen finden. Denn als Folge der Befragung war die Midewa bemüht, gesundheitlich beeinträchtigten Monteuren andere Arbeitsplätze anzubieten - etwa als Ableser beziehungsweise Wechsler von Wasserzählern. Andere wurden als Kurierfahrer eingesetzt. Sogar zwei neue Vermesser-Stellen wurden für die 45+-Monteure geschaffen - eine davon erhielt Rolf Keune. Sie erspart ihm, mit hohen Abschlägen in Rente zu gehen.
Sicher - nicht für jeden Mitarbeiter wird es eine solche Lösung geben können. Deshalb bietet der Betrieb gleichzeitig für die Monteure ein sehr attraktives betriebliches Altersteilzeit-Modell an - auch wenn es dafür keine staatliche Förderung mehr gibt. „Aber die Monteure haben eine klare Perspektive und können ohne Angst auf die Zeit nach ihrem Erwerbsleben schauen“, meint Personalchefin Petra Assmann. Thiébauld Mittelberger sieht es pragmatisch: „Die Entscheidung über die Rente mit 67 ist gefallen. Wir müssen das akzeptieren und uns darauf einstellen“, sagt er. Er erwartet jedoch, dass der Staat Programme unterstützt, die aufgelegt werden, um Menschen zu zu längerer Arbeit zu befähigen.
Die SPD plädiert dafür, die Rente mit 67 solange auszusetzen, solange nicht 50 Prozent der 60- bis 64-Jährigen sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Davon hält Gasche nichts: „Erstens sind schon in jüngeren Altersgruppen nie mehr als 65 Prozent sozialversicherungspflichtig beschäftigt, weil es viele Beamte, Selbstständige und Nicht-Erwerbstätige gibt. Und nun sollen gerade in der Altersgruppe der 60- bis 64-Jährigen, in der zusätzlich einige erwerbsunfähig und einige vorzeitig in Rente gegangen sind, 50 Prozent erreicht werden. Das ist zu hoch“, findet er.
Zweitens werde hier das Pferd von der falschen Seite aufgezäumt. „Es wird gesagt, erst wenn wir die 50 Prozent erreicht haben, führen wir die Rente mit 67 ein.“ Umgekehrt werde ein Schuh daraus: Nur wenn die Rente mit 67 eingeführt werde, gebe es einen Anreiz länger zu arbeiten. Und dann könnten die 50 Prozent vielleicht auch erreicht werden, so Gasche und bemüht einen Vergleich. „Der SPD-Ansatz ist genauso, als wenn ich einem 120-Kilo-Mann sage, er solle 30 Kilogramm abnehmen, aber erst damit beginnen, wenn er 100 Kilo wiegt. Das ist paradox.“
Gasche sieht sich durch den Umstand bestätigt, dass derzeit eine Zunahme der Erwerbstätigkeit in dieser Altersgruppe zu verzeichnen sei. „Wir liegen momentan bei rund 30 Prozent; im Jahr 2000 waren es noch rund zehn Prozent.“
Eine Frage des Selbstwertgefühls
Allen Zahlenspielen zum Trotz: Die Gewerkschaften fordern eine komplette Rolle rückwärts. „Die Anhebung des Renteneintrittsalters muss für alle Rentenarten rückgängig gemacht werden“, sagt Almut Kapper-Leibe. Im Übrigen sei das finanzierbar und durch den DGB mit Konzepten unterlegt. Knapp 80 Prozent der befragten IG-Metaller aus Niedersachsen und Sachsen-Anhalt sind der gleichen Meinung.
Martin Gasche lehnt auch das ab. „Das ist nicht nur eine Frage der Rentenversicherung, sondern das betrifft die gesamte Volkswirtschaft. Die Rente mit 67 ist auch ein Programm, das das Wachstum der Volkswirtschaft stärkt, weil Wachstum auch auf Erwerbstätigkeit fußt.“ Aber auch er räumt ein: „Sicher würden viele lieber mit 65 in Rente gehen. Aber wenn sie erst in Rente sind, merken viele Menschen, dass der Ruhestand gar nicht so toll ist. Irgendwann sind alle Bücher gelesen, die man noch lesen wollte, alle Räume renoviert, alle Reisen gemacht. Nach drei Jahren denkt man vielleicht: Jetzt würde ich eigentlich auch gern mal wieder gebraucht werden.“ Arbeit, sagt er, sei es erwerbsmäßig oder ehrenamtlich, habe auch immer etwas mit Selbstwertgefühl und sozialer Integration zu tun.