MZ-Serie «Lebenswandel» MZ-Serie «Lebenswandel»: Die Arbeit ist aus dem Dorf verschwunden

Hohengrieben/MZ. - So wie der 38-Jährige machen es viele im Nordwesten Sachsen-Anhalts. Die Jobs sind nicht hier, sie sind im östlichen Niedersachsen. Aber was passiert in den Dörfern, wenn die Pendler dort nur noch schlafen? Oder gar nur am Wochenende zu Hause sind? "Besonders bei den Feuerwehren merken wir das natürlich", sagt Fritz Kloß, Bürgermeister der Gemeinde Flecken Diesdorf. Wer nicht da ist, kann nicht zum Einsatz ausrücken.
In Hohengrieben, einem Ortsteil von Flecken Diesdorf, haben sie keine Feuerwehr und auch sonst keine Vereine. Das Dorf ist winzig, vermutlich das kleinste im ganzen Land. Sechs Gehöfte links, sechs Gehöfte rechts der gepflasterten, mit mächtigen Pyramideneichen gesäumten Dorfstraße. 22 Einwohner. Davon sieben Rentner, sechs Kinder. Wer arbeitet, muss fahren. 80 Kilometer, wie Daniel Schulz. Oder auch nur zwei, wie Ursula Wöldecke, die täglich ins benachbarte Mehmke radelt, wo sie als Erzieherin in einer Kita arbeitet.
Das Dorf ist klein, aber seine Probleme sind dieselben wie anderswo auch. Hohengrieben werde ein Schlafdorf, hatte Gerhard Schulz, damals Bürgermeister, schon 1999 zur 250-Jahr-Feier vorausgesagt. "Die Arbeit ist aus dem Dorf verschwunden", sagt der 60-jährige Chef einer Lkw-Werkstatt in Salzwedel. Landwirtschaft? Die Felder rund um den Ort werden von einem Agrarbetrieb im Nachbardorf Bierstedt bewirtschaftet. Einer in Hohengrieben hat es mal probiert mit Schweinemast und Ackerbau - es ging schief. "Das waren höchstens zehn Hektar, damit können sie nicht überleben", stellt Schulz nüchtern fest. Schade drum, findet er.
Gewerbe? Fehlanzeige. Wobei: Da ist ja noch Nico Kolsteren. Der 55-Jährige stammt aus Rotterdam und zog vor einem Jahr aus Belgien nach Hohengrieben, der Liebe wegen. Der Holländer ist selbstständiger Software-Entwickler, er hat einen alten Hof gekauft und arbeitet dort. Damit ist Kolsteren aber nur die Ausnahme, die die Regel bestätigt.
Hohengrieben - ein Schlafdorf also. Aber eines, in dem das Dorfleben trotzdem funktioniert. Einmal im Jahr, immer am letzten Wochenende im April, stellen sie ein großes Fest auf die Beine, den Zelttanz. Drei Tage lang Tanz und Live-Musik, dazu seit einigen Jahren ein Oldtimer-Treffen. Jahr für Jahr kommen dafür tausende Gäste in die westliche Altmark. Längst ist der Zelttanz eine feste Größe im Veranstaltungskalender der Region. Und darüber hinaus. Besucher und Helfer reisen auch aus Halle und Magdeburg, aus Berlin und Hannover an. Ende der 60er Jahre war es, als Gerhard Schulz und ein paar andere damit angefangen haben. "Wir wollten etwas losmachen, und die Alten haben damals immer erzählt, so etwas gab es früher schon." Sie wollten Traditionen wieder aufleben lassen. Mittlerweile ist das Fest zum Selbstläufer geworden, weil seit Jahrzehnten alle im Dorf mit anpacken. Organisieren. Aufbauen. Kuchen backen. Die Arbeit beginnt schon im Januar, wenn die Aussteller der Oldtimer-Schau angeschrieben, 10 000 Flyer gefaltet und verschickt werden müssen.
Warum tut jemand wie Daniel Schulz sich das an? Jemand, der nach einem langen und anstrengenden Arbeitstag noch lange auf der Straße hängt. Der Haus, Garten, Kinder hat. Die Antwort: Er ist reingewachsen, so wie heute seine Kinder da reinwachsen. Der Zelttanz - für ihn eine Selbstverständlichkeit. Ihm käme nie der Gedanke, nicht mitzuhelfen.
Das hat viel zu tun mit Verantwortung für das eigene Dorf. Auch Anja Fuhrmann erzählt eine Geschichte darüber: Neulich hat sie Rasen gemäht. Bei sich auf dem Grundstück. Und dann noch auf einem Streifen Gemeindeland gleich nebenan. "Weil wir lange warten können, bis da mal jemand von der Gemeinde kommt", sagt die 33-Jährige. Und weil es eben auch ihr Dorf ist. Hier ist sie aufgewachsen. Zurzeit lebt die Familie überwiegend in Spanien, Anja Fuhrmanns Mann Tino arbeitet dort für einen Autokonzern. Erst in eineinhalb Jahren wird er wieder nach Deutschland versetzt. Dann werden sie in ihr Haus in Hohengrieben zurückkehren. Auf Dauer.
"Hier kehrt nicht jeder nur vor seiner eigenen Tür", das sei das Prinzip, sagt Anja Fuhrmann. So treffen sich die Dorfbewohner regelmäßig zu Laub-Sammelaktionen unter den alten Eichen. Und wer nicht mehr so kann, von den Alten zum Beispiel, der bringt eben eine Kanne Kaffee vorbei. Und hilft so den anderen.
Einmal haben sie für das Mähen öffentlichen Landes einen Rasentraktor gemietet, erzählt Gerhard Schulz. Die Rechnung, 40 Euro, haben sie nachher an die Gemeindeverwaltung geschickt. "Die wurde dann übernommen, aber nur zähneknirschend." Sie ärgern sich in Hohengrieben über so viel Gleichgültigkeit. Der ehemalige Bürgermeister erwartet schon gar nicht mehr, dass mal ein Gemeindearbeiter vorbeigeschickt wird, wenn etwas zu tun ist auf öffentlichen Flächen. Aber er wünscht sich "wenigstens Anerkennung dafür, dass wir es machen".
Denn das wissen sie genau: Sie müssen sich selbst kümmern. Hohengrieben ist einer von 94 Ortsteilen einer riesigen Verbandsgemeinde. Es gibt noch nicht mal mehr einen Ortschaftsrat. "Wenn wir nichts tun, um uns hier wohlzufühlen", sagt Daniel Schulz, "dann passiert auch nichts."
Vielleicht geht es in Zukunft nur so. Vielleicht ist Hohengrieben so etwas wie ein Labor in einem Land, das sich leert. Ein Labor für diejenigen, die übrig bleiben. Übrig bleiben wollen.