MZ-Serie "Leben nach dem Mauerfall" MZ-Serie "Leben nach dem Mauerfall": Yasmyna die erste Stripperin der DDR

Berlin - Threna. Die dralle Sünde wohnt auf dem platten Land. Eine Straße führt zu ihr, gesäumt von Einfamilienhäusern, hinter denen sich Felder erstrecken. Die Straße sieht so aus, wie sie heißt: Dorfstraße. Es gibt nicht viele Straßen hier in Threna nahe Leipzig. Dorfstraße Nummer 40a ist ein gelbes Haus auf grünem Rasen nebst blauschimmerndem Pool. Am Zaun wirbt ein Schild für ein Fotostudio. Auf dem Schild steht: „Geht nicht ist für mich ein Fremdwort.“
Man klingelt, wartet, dann erscheint die Frau, bei der alles geht. Ganz in Schwarz schreitet Heidi Wittwer die Hofeinfahrt herunter. Ihr blondiertes Haar wird zusammengehalten von einem Pferdeschwanz, ihre Taille von einer Totenkopf-Gürtelschnalle. Die Strasssteine der Schnalle blitzen in der Sonne. Neben Heidi Wittwer trabt ein Hund von den Ausmaßen eines Kalbs her. Sie öffnet das Tor. „Hallo, ich bin die Heidi“, sagt Wittwer. Und: „Der Hund macht nichts.“ Sie streichelt dem Kalb über den Kopf. „Ganz schlecht geht’s dem, er hatte die ganze Nacht Magenkrämpfe. Aber er will trotzdem an meiner Seite sein. Ich bin die Alphahündin.“
Heidi Wittwer. Alphahündin, Fotostudio-Besitzerin, Leiterin einer Erotik-Tanzschule, vor allem aber: Yasmyna, die erste Stripperin der DDR. Wobei, ob sie wirklich die erste war, das weiß niemand mehr so genau. Ganz sicher war sie die berühmteste. So berühmt, dass sie schon im Westfernsehen gezeigt wurde, als die Mauer noch stand. Die Nackedei-Karriere der Heidi Wittwer begann im Leipzig der 80er Jahre mit einer Bewerbung zur Miss Karneval. Wittwer war damals Ende zwanzig und Fachverkäuferin für Rundfunk und Fernsehen in einem HO-Geschäft. Eine sehr hübsche Fachverkäuferin, deren Gesicht auch schon mal auf Werbeplakaten für Schönheitscremes prangte. Trotzdem glaubte Heidi Wittwer nicht an ihre Chance auf den Titel der Miss-Karneval.
Auf der nächsten Seite: „Ich hatte Gesichtslähmung, bevor ich da raus bin. Aber als ich auf der Bühne stand, sind die Leute ausgeflippt. Die haben getobt und gelacht. Im Osten gab’s das ja nicht.“
„Die anderen Mädchen waren Grazien! Da sagte sogar mein Roné, mein Männel: Hier kannst du einpacken!“ Bei der Erinnerung an die Kapitulation von Roné schlägt Heidi Wittwer noch 30 Jahre später die Hände so doll vor der Brust zusammen, dass es patscht. Das Patschen hallt durch eine Doppelgarage, die Foto- und Tanzstudio in einem ist. Ein samtig-dunkler Vorhang teilt das Studio, in dem sich Federboas um Kleiderstangen schlängeln und Perücken auf Köpfen von Schaufensterpuppen hängen. In einer Ecke stehen ein Spiegel und eine Säule aus Gips, daneben ein Schwarz-Weiß-Bild zweier halbnackter Frauen. Heidi Wittwer hat sich einen weißen Fransenmantel übergeworfen und thront auf einem Sessel mit floralem Muster. Sie hebt den Zeigefinger. „Aber da dachte ich mir: Heidili! Jetzt erst recht! Die fettest du alle ab!“
Heidi Wittwer fettet die Grazien so überzeugend ab, dass sie von einem Bekannten auf eine Kulturveranstaltung des FDGB eingeladen wird. Als Nummerngirl. Ausgerechnet sie, die die Straßenseite wechselte, wenn ein Junge sie anquatschte. „Ich hatte Gesichtslähmung, bevor ich da raus bin. Aber als ich auf der Bühne stand, sind die Leute ausgeflippt. Die haben getobt und gelacht. Im Osten gab’s das ja nicht.“ Bis dahin.
Ein Veranstaltungsmanager spricht sie an. „Der kümmerte sich nur um die ganz Großen wie Peter Maffay und Tina Turner.“ Und dann um Heidi Wittwer. Mit seiner Hilfe macht sie sich auf, eine Marktlücke zu erobern. Offiziell gibt es zwar weder Stripperinnen noch Table Dance in der DDR, aber es gibt erotische Tanzdarbietungen.
Heidi Wittwer nutzt die Grauzone. Sie schaut sich die Tänzerinnen im Friedrichstadtpalast an und später dann die Videos der Popstars bei MTV. Sie übt vor dem heimischen Spiegel Tanzschritte. Die Kostüme für ihre Auftritte näht sie selbst. Ihre Paradenummer ist die Heidi von der Alm, bei der sie mit Melkschemel und aufgemalter Zahnlücke auf die Bühne kommt. „Das passte super, weil ich nicht nur Heidi heiße, sondern auch ’ne Lustische bin!“ Heidi Wittwer grinst.
Nicht alle finden ihre Auftritte zum Lachen. Die Funktionäre der Kultur- und Gastspieldirektion in Leipzig verweigern ihr die Einstufung als Künstlerin. Heidi Wittwer tritt trotzdem im ganzen Land auf, bei Kulturveranstaltungen, aber auch auf der Messe in Leipzig. „Da habe ich Mucken gemacht wie blöde.“ Nach der Messe kann sie sich einen Wartburg kaufen. Ihre Karriere nimmt Fahrt auf. Irgendwann meldet sich sogar die Gastspieldirektion wieder: Ob sie nicht vielleicht Lust auf eine Vorstellung im kleinen Rahmen hätte? Vor den Kulturfunktionären? Hat sie nicht.
„Die dachten, da kommt das kleine dumme Blondchen und macht sich für jeden nackisch! Von wegen.“ Heidi Wittwer hat sich durchgesetzt gegen alle Widerstände. Gegen die eigene Schüchternheit, gegen die Zweifel ihres Männels, gegen die grauen Funktionäre und gegen die Dynamik eines Gewerbes, das für Frauen meist nur Abhängigkeit oder Absturz bereithält.
Wie viel Kraft dieser Job gekostet hat, ahnt man, wenn sie lacht, mit einer Stimme, die rau ist von durchgearbeiteten Nächten. Oder wenn sie sich vorbeugt. Dann legt das Licht des Studioscheinwerfers die Spuren in ihrem Gesicht frei: die Schatten unter den Augen, die Falten um den Mund, das Hörgerät, das sich ans Ohr klammert.
Auf der nächsten Seite: Wittwer baut eine Tanztruppe auf und tanzt als Helmut Kohl.
Schon bald kann sie die Anfragen nicht mehr alleine bewältigen. Heidi Wittwer baut eine Tanztruppe auf. „Das waren meine Hühner und meine Hüpferlinge!“ 20 Frauen und Männer und mittendrin sie selbst, als Yasmyna. Den Namen hat sie ausgewählt, weil der so einprägsam ist. Neben der Alm-Heidi tritt Yasmyna auch als Hexe und Helmut auf. Helmut Kohl. „Da bin ich mit Maske und dickem Bauch rausgekommen auf die Bühne. Im Nadelstreifenanzug! War’n aber alles Rupfklamotten.“ Rupfklamotten? „Klamotten mit Druckknöpfen. Da musst du nur rupfen, dann ist alles weg.“ Sie lacht.
Nur eine Nummer gibt Heidi Wittwer noch hingebungsvoller. Die Mutter der Kompanie, die ihre Hüpferlinge vor den Gefahren des Gewerbes beschützt. „Wir tanzen auf Hochzeiten, Geburtstagen und in Festzelten, aber selten in Diskotheken. Da wird man häufig beschimpft – das will ich meinen Hühnern ersparen.“ Oder so: „Immer sauber bleiben, habe ich meinen Hühnern eingeimpft! Wir arbeiten nur als Tänzerinnen. Und wehe, die halten sich nicht dran.“
Heidi Wittwer hat genaue Vorstellungen von dem, was geht, und was nicht geht. „Offene Küche“ geht zum Beispiel gar nicht. „Posen, bei denen man bis zum Hals gucken kann.“ Was auch nicht geht: „Wenn sich die Mädels auf einen Mann druff drücken mit ihren Teilen.“ Billig sei das. „Nicht erotisch!“
Bei ihrer Truppe laufen solche Auftritte anders ab. Da machen Hexen, Teufel und Pyrotechnik für eine knappe Stunde Programm. Zehn durchchoreografierte Minuten dauert es, bis aus einem Hüpferling eine Nackische wird. Drei Teile hat so eine Nummer. Im ersten Teil erobert der Tänzer mit Action das Publikum. Im zweiten Teil lässt er die Zuschauer ahnen, dass es um mehr geht. „Teil drei ist dann die ärodische Phase.“ Heidi Wittwer grinst. „Ä-R-O-D-I-S-C-H. Hast du das sächsisch aufgeschrieben?“
Erotik auf Sächsisch. Es ist die neue Marktlücke der Heidi Wittwer. Eine, die sie kurz nach dem Fall der Mauer entdeckte, als das Tanz-Geschäft nicht mehr lief, weil das Leben teuer wurde und die Arbeit knapp. Nur jene, die sich anpassten und als unersetzbar inszenierten, hatten eine Chance - als Marke, die erhalten werden muss. Auch Heidi Wittwer ist zur Marke geworden. Die patente Ostfrau mit großem Herzen, über die RTL berichtet und ProSieben, die man zu Jörg Pilawa in die Quizsendung schicken kann. Eine liebenswerte Mischung aus Muttertier und Puffmutter.
Sich selbst ausgezogen hat Heidi Wittwer zum letzten Mal mit 48. Auch schon wieder ein paar Jahre her. Eine feste Tanztruppe hat sie nicht mehr, die Hüpferlinge arbeiten auf Zuruf. Ihr Hauptgeschäft ist es nun, anderen beizubringen, wie man sich hübsch nackig macht. Hier in dieser Garage. Heidi Wittwer ist Geschäftsführerin der Erotik-Dance-Schule.
Zu ihr kommen meist Frauen, meist zwischen 40 und 50, meist länger verheiratet und auf der Suche nach neuem Schwung. „So ein Striptease ist kein Allheilmittel“, sagt Heidi Wittwer, aber hilfreich sei er schon. Zehn Einzelstunden à 40 Euro nimmt ein Grundkurs in Anspruch. Jede Teilnehmerin erhält eine Musik und die Aufgabe, sich eine Geschichte für das Ausziehen auszudenken. Am Ende steht eine Choreografie von acht Minuten. Der Striptease für den Hausgebrauch, sagt Heidi Wittwer. Aber es gehe um mehr als ums Ausziehen.
„Das hier ist Arbeit“
„Bei mir erfahren die Frauen, wie ihr Körper funktioniert. Da hängt nämlich alles, weil niemand sagt, dass sie sich gerade hinstellen sollen!“ Niemand außer Heidi Wittwer. Die sagt: Brust raus, Bauch rein! Du musst untenrum geschmeidig sein! Steck deine Füße nicht in solche Waldbrandaustreter! Körperbewusstsein! „Die Leute glauben, dass man mit Geld alles kaufen kann. Doch das hier ist Arbeit.“
Wittwer erzählt von Gewichtsproblemen und überheblichen Junghühnern, von Menschen, die ganz neue Muskeln entdecken. „Die Frauen lernen sich selbst kennen“, sagt sie und steht auf. Sie zieht den Kopf zwischen die Schultern, hält die Hände vor das Gesicht, piepst: „Hallo Frau Wittwer, ich möchte einen Kurs buchen.“ So kämen die Frauen zu ihr. Wenn sie aber gingen, sähe das ganz anders aus. Sie stemmt die Hände in die Hüften, dreht den Oberkörper zur Seite und wirft den Kopf in den Nacken. Dann raunt sie: „Hallo Heidi, wann sehen wir uns wieder?“ Augenaufschlag. Ihre Totenkopf-Gürtelschnalle funkelt. Heidi Wittwer steht jetzt voll im Licht des Studioscheinwerfers. Man sieht keine Falten und kein Hörgerät. Man sieht Yasmyna.