1. MZ.de
  2. >
  3. Deutschland & Welt
  4. >
  5. Politik
  6. >
  7. MZ-Leserforum mit Sigmar Gabriel: MZ-Leserforum mit Sigmar Gabriel: SPD-Vorsitzender bietet Klartext in Halle

MZ-Leserforum mit Sigmar Gabriel MZ-Leserforum mit Sigmar Gabriel: SPD-Vorsitzender bietet Klartext in Halle

Von Markus Decker 12.07.2016, 17:45
MZ-Chefredakteur Hartmut Augustin (l.) und Jochen Arntz, Chefredakteur der Dumont-Hauptstadtredaktion (r.), moderieren die Runde mit SPD-Chef Sigmar Gabriel.
MZ-Chefredakteur Hartmut Augustin (l.) und Jochen Arntz, Chefredakteur der Dumont-Hauptstadtredaktion (r.), moderieren die Runde mit SPD-Chef Sigmar Gabriel. Andreas Stedtler

Halle (Saale) - Eines bietet Sigmar Gabriel auf jeden Fall – Klartext. Als ein älterer Leser die westliche Russland-Politik kritisiert und erklärt, wenn die Russen mittlerweile nicht auf der Krim wären, dann wäre es die Nato, erwidert der SPD-Vorsitzende: „Das ist doch dummes Zeug.“ Das Agieren des russischen Präsidenten Wladimir Putin sei völkerrechtswidrig, sagt er. Punktum. Gabriel, der gleich zu Beginn sein Jackett ablegt, reibt sich gern – auch mit Journalisten. Andererseits wissen alle, woran sie sind.

Der SPD-Chef und Vizekanzler war am Montagabend Gast der Mitteldeutschen Zeitung. Bei einem Leserforum in Halle, moderiert von MZ-Chefredakteur Hartmut Augustin und dem Chefredakteur der DuMont-Hauptstadtredaktion, Jochen Arntz, steht der 56-Jährige 1:45 Stunden lang Rede und Antwort. Langweilig wird es nie.

Zu Beginn erläutert Gabriel seine sehr private Beziehung zu Sachsen-Anhalt. Er litt nämlich mal unter chronischen Zahnschmerzen. Helfen konnte ihm lange niemand – bis auf eine Zahnärztin an der Uniklinik Halle. „Wenn Dir die so auf den Zahn fühlt, dann willst Du die mal kennenlernen“, sagte Gabriel anschließend zu sich selbst. Aus dem Entschluss gingen eine Ehe und ein gemeinsames Kind hervor. Zwar zog die Familie eines Tages von Magdeburg, wo Frau Gabriel zwischenzeitlich eine Praxis eröffnet hatte, nach Goslar. Dort ist Herr Gabriel zu Hause. Dieser betont aber, die Tochter sei in Magdeburg geboren, die Schwiegereltern lebten in Sandersleben. „Ich bin halber Beute-Ossi geblieben.“

Nach diesen einleitenden Worten geht es schnell zur Sache. Das erste große Thema ist die Flüchtlingspolitik. Und der Gast aus Berlin stellt klar, er habe den Zustrom von einer Million Menschen nie für eine leicht lösbare Aufgabe gehalten. Zwar sei Deutschland fähig, sie zu bewältigen. Die Konjunktur laufe super. „Ohne das wäre im Land der Teufel los gewesen.“ Auch lässt der Wirtschaftsminister keinen Zweifel daran, dass insbesondere die syrischen Flüchtlinge Hilfe bräuchten. Er kümmere sich um eine syrische Familie, deren Mitglieder teils schwer verletzt oder traumatisiert seien. Gleichwohl sei die Integration dieser vielen Menschen eine Aufgabe für ein Jahrzehnt. Viele hätten keine Ausbildung genossen und den Antisemitismus mit der Muttermilch aufgesogen. Die deutsche Leitkultur der ersten 20 Grundgesetz-Artikel erwerbe man nicht mit dem Grenzübertritt. Mit einem Wort: Der Politiker wirbt für „Zuversicht und Realismus“ - und dafür, die heimische Bevölkerung nicht zu vergessen.

Auch die Belange der Ostdeutschen sind ein heißes Thema. Gabriel beklagt, dass die neuen Länder zu lange als Experimentierfeld für schlechte Löhne gedient hätten. Weil nur rund 30 Prozent der Ostdeutschen nach Tarif bezahlt würden, habe der Rest „eine drastisch schlechtere Entlohnung als im Westen. Das ist ein Riesenproblem.“ Denen, die auf Angleichung der Renten pochen, gießt der Sozialdemokrat Wasser in den Wein. Denn bei gleichem Rentenwert in Ost und West müsse auch die Höherwertung der ostdeutschen Löhne entfallen. Das werde zu Verlusten führen. „Wir lügen uns um die Wahrheit herum“, findet Gabriel. Die Misere werde erst längerfristig verschwinden. Ungerechtigkeiten würden bleiben.

Der dritte große Komplex ist die Außenpolitik. So macht Gabriel deutlich, dass er das Vorgehen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gegen die Pressefreiheit und die Kurden ablehne. Zugleich droht er mit dem Abzug der Bundeswehr vom türkischen Stützpunkt Incirlik, wenn Erdogan Abgeordneten weiter verwehre, dort deutsche Soldaten zu besuchen. „Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee“, unterstreicht Gabriel. „Und wenn das Parlament nicht seine Armee besuchen kann, dann kann die Armee nicht da bleiben. Das ist völlig klar.“

Ähnlich bei Putin. „Gegenseitige Aufrüstung macht nichts besser“, sagt er zwar gemünzt auf Nato-Entscheidungen. „Ich glaube, dass sich das hochschaukelt; deshalb würde ich die Finger davon lassen.“ Der Vizekanzler sagt allerdings auch, Putin sei der erste, der nach der KSZE-Schlussakte von 1974 das Gebot der Unverletzlichkeit von Grenzen verletzt habe. Er sei „kein Kumpel, mit dem man alles regeln kann“. Drum sei er dafür, die Sanktionen beizubehalten – wissend, dass viele Ostdeutsche dies anders sähen.

Ja, es ist ein zähes Ringen an diesem Abend. Amüsant ist es aber auch mal. Als sich ein Mann meldet mit den Worten: „Mein Name ist Dreißig – wie Vierzig“, entgegnet Gabriel: „Und wie alt sind Sie wirklich?“ Da lacht der Saal. Und der Gast, der nach dem MZ-Besuch in den Urlaub geht, lacht mit. (mz)