Mitteldeutschland Mitteldeutschland: Das Gedächtnis des Landes
Halle/MZ. - Heise ist Chef des Merseburger Landesarchivs, das als einer von fünf Standorten zum Landeshauptarchiv in Magdeburg gehört. Das "Gedächtnis des Landes", wie es manchmal ehrfürchtig genannt wird, ist gewaltig. In Merseburg lagern 15 000 laufende Meter Akten, sieben Fußballfelder könnte man damit füllen.
Alles, was für die Geschichte der Region von Belang ist, wird hier mit viel Mühe gesichert, wird inhaltlich erschlossen und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Und: Das "Gedächtnis" reicht zurück bis ins Jahr 1816, als der Regierungsbezirk Merseburg der Preußischen Provinz gegründet wurde.
Der betriebene Aufwand hat durchaus seinen Hintergrund. Niemand weiß, welche Fragen eines Tages einmal von Interesse sein könnten. Wie war das, als Kubas Partei- und Staatschef Fidel Castro 1972 durch Halle nach Merseburg fuhr? Welche Urteile fällte das hallesche Sondergericht der Nazis? Und wie sah die Speisekarte der HFC-Fußballer aus, als die erfolgreiche Truppe von der Politprominenz besucht wurde? Warum gibt es für die Bildung des halleschen Bezirksrates ein russischsprachiges Protokoll? Für Heise und seine Mitarbeiter sind solche spannenden Fragen kein Problem. Das 16 Mitarbeiter zählende Team kümmert sich um jede Anfrage. "Die Themen, die uns bewegen, kommen oft sehr überraschend", so der Archivar. Als die Zwangsarbeiterdebatte nach dem Mauerfall anlief, meldeten sich viele Osteuropäer - gerade Ukrainer und Polen hatten während des Zweiten Weltkrieges im Chemiedreieck arbeiten müssen. Als es um Entschädigungen für Kriegsgefangene ging, erlebten die Merseburger Archivare einen neuen Ansturm und viel Arbeit. Aber auch Bürger, die zu DDR-Zeiten enteignet wurden, suchen in Merseburg nach Unterlagen. Oft kann ihnen unkompliziert geholfen werden.
Vor allem der Zusammenbruch der DDR hat dem Team um Gerald Heise noch Jahre später manch hektische Stunde bereitet. Da in den Räumen, die 1912 eigentlich als Archiv der Landesversicherungsanstalt gebaut wurden, auch die Unterlagen zu den einst staatlichen Betrieben der DDR gesammelt werden, erreichten die Mitarbeiter immer wieder Anrufe: "Entweder, ihr holt die Unterlagen schnell ab, oder wir schmeißen sie weg", erinnert sich Heise. Also fuhren sie los, übernahmen die Papiere von Leuna und Buna, der Weißenfelser Schuhfabrik, des Waggonbau Ammendorf oder der Mifa Sangerhausen. Wer regionale Industriegeschichte erforschen will - in Merseburg wird er mit Sicherheit fündig. "Häufig war unsere erste Aufgabe die Sicherstellung des Materials", so Heise, der seit 35 Jahren als Archivar und Historiker arbeitet.
Vor allem die Papiere der halleschen SED-Bezirksleitung und des Rates des Bezirkes sind seit Anfang der neunziger Jahre "Renner" für die Nutzer. Wissenschaftler forschen intensiv. Aber auch das Dritte Reich ist permanenter Forschungsgegenstand. So arbeitet Archivar Helge Kirbs derzeit an einem Projekt, in dem der Missbrauch der Justiz durch die Nationalsozialisten untersucht wird.
Fast sechs Millionen D-Mark hat das Land Sachsen-Anhalt bis 1999 ausgegeben, um optimale Bedingungen in dem Archiv zu schaffen. Da die gelagerten Akten und wertvollen Landkarten häufig alt und brüchig sind, werden die Magazine inzwischen so temperiert, dass die Idealtemperatur von etwa 17 Grad und eine Luftfeuchtigkeit zwischen 40 und 50 Prozent erreicht werden. Buchbinderin Eva-Maria Schulz hat trotzdem alle Hände voll zu tun. "Ich könnte hier noch zwei Berufsleben verbringen", erzählt sie über den Umfang ihrer Arbeit. Sie versucht, die am meisten bedrohten Archivalien zu restaurieren - und zwar stets so, dass alle Eingriffe von späteren Generationen rückgängig gemacht werden könnten.
Zum Sachsen-Anhalt-Tag lädt das Archiv an beiden Tagen zu Führungen ein. Vorbereitet ist eine Ausstellung, die besonders wertvolle Stücke zeigt - und dabei auch Filme aus der Region, die man sonst nirgends sehen kann.
Landeshauptarchiv, Abteilung Merseburg, König-Heinrich-Straße 83, Samstag und Sonntag zwischen 10 und 18 Uhr regelmäßige Archivführungen und Videopräsentationen