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Minderheiten Minderheiten: Gibt es in Deutschland eine islamische Parallelgesellschaft?

17.11.2004, 19:58

Berlin/dpa. - Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (CDU) kritisierte, dassislamistische Hassprediger «mit deutschem Pass hier in ihrerParallelgesellschaft leben». Man müsse alles daran setzen, um dasEntstehen neuer und die Verfestigung vorhandenerParallelgesellschaften zu verhindern, sagte Schily am Dienstagabendin Berlin. Gibt es parallel zur Gesellschaft der Mehrheit liegendeWelten als potenzielle Brutstätte islamischer Gewalt in Deutschland?Sitzen die Deutschen auf einem «Pulverfass» (CDU-GeneralsekretärLaurenz Meyer)?

«"Parallelgesellschaft" ist ein bei weitem unzureichend geklärterSchreckbegriff», hält der Integrationsforscher Klaus J. Bade denWarnern entgegen. Für viele Einheimische habe sich die Einwanderungnach Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten unerwartetentwickelt, sagt der Direktor des Instituts für Migrationsforschungder Universität Osnabrück und einer der führenden Regierungsberaterin Migrationsfragen zur dpa. Doch Viertel mit hohem Ausländeranteil,die Vertiefung islamischen Glaubens und mangelnde Deutschkenntnissemit der Entwicklung einer «Parallelgesellschaft» erklären zu wollen,hält Bade für «gefährlich».

Bis auf wenige Ausnahmen, etwa Teile des Berliner ProblemviertelsNeukölln, gebe es in den deutschen Städten gar keine «ethnischeHomogenität» etwa Türkischstämmiger, sagt Bade. Vor allem aber:«Viele grenzen sich nicht freiwillig von der Mehrheitsgesellschaftab.»

Gerade ein Vergleich mit den Niederlanden zeigt, warum sichislamischer Fundamentalismus entwickeln kann. Dort waren dieUnterschiede zwischen Einwanderern und Einheimischen nach Angaben desin Berlin forschenden niederländischen Soziologen Ruud Koopmans überJahre weit größer als in Deutschland - bezüglich Bildung,Arbeitslosigkeit und Abschottung in den Städten.

Doch die Konjunkturkrise und der massive Arbeitsplatzabbau in derProduktion scheinen sich zunehmend auch in der Bundesrepublik ungutauszuwirken. Nach einer Studie des Essener Zentrums für Türkeistudienist das Haushaltseinkommen zum Beispiel der Türkischstämmigen inNordrhein-Westfalen im vergangenen Jahr gesunken - ein Drittelschätzen ihre Situation als «schlecht» ein. Die Zahl der religiösenTürken ist binnen eines Jahres dafür um 14 auf 71 Prozent gestiegen.

Hamburger Forscher fanden bundesweit unter Neuntklässlern heraus,dass nur für 17 Prozent der christlichen Schüler in Deutschland dieReligion wichtig ist - aber für 73 Prozent der muslimischen: «Jeausgeprägter die Religiosität, desto niedriger die sprachlich-sozialeIntegration der Jugendlichen.»

Der Islam der meisten deutschen Muslime hat allerdings nichts mitGewaltpredigern wie Metin Kaplan zu tun, sondern ist oft volkstümlichund friedfertig. Nach Feststellung des Verfassungsschutzes haben sichnur etwa ein Prozent der Muslime in Deutschland islamistischenOrganisationen angeschlossen. Hinter dem Angstbegriff Islamismusverbergen sich zudem eher keine Terrorgruppen, sondern vielfältigeStrömungen, die in Büchern, einzelnen Moscheen und im Internet anfundamentalistische Ideologien einer besseren Welt stricken.

«Wo muslimische Gruppen sich ausgegrenzt fühlen, von einerEnttäuschung in die andere taumeln und dann von solchen Leutenbeeinflusst werden, kann sich Fundamentalismus entwickeln», sagtForscher Bade. Dass Einwanderer oft in der Nähe von Ihresgleichenwohnen, rühre aber in den allermeisten Fällen eher von derpraktischen Solidarität zwischen den Menschen in einer schwierigenUmgebung her. Zu viel Angst vor einer Parallelgesellschaft führedazu, die Augen vor der komplizierten Wirklichkeit imEinwanderungsland Bundesrepublik zu schließen. «Der Schreckbegriff"Parallelgesellschaft"», kritisiert Bade deshalb, «beginnt sich zursich selbst erfüllenden Prophezeiung in der Öffentlichkeit zuentwickeln.»