Merkel zu Gast bei "Anne Will" Merkel zu Gast bei "Anne Will": "Merkt Merkel nicht was im Land los ist?"
Berlin - Erika Steinbach hatte vorsichtshalber ihr Fernsehen erst gar nicht eingeschaltet: „Sehe Anne Will gerade nicht“, erklärte die Bundestagsabgeordnete vom äußersten rechten CDU-Flügel bei Twitter. Der selbstgewisse Auftritt von Bundeskanzlerin Angela Merkel passte ganz offensichtlich nicht zur Gemütslage von Steinbach: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht“, zitierte diese einen deutschen Klassiker: „Nie habe ich so mit Heine gefühlt wie heute!“ Und während Merkel vor einem Millionenpublikum ihr „Wir schaffen das“ in der Flüchtlingskrise wiederholte, leitete Steinbach den Brandbrief von 34 CDU-Funktionären gegen Merkels Asylpolitik an ihre Follower weiter: „Ein Ruf der Verzweiflung!“
„Sachlich, ruhig, präzise“
Andere Unionspolitiker reagierten am Mittwochabend ganz anders auf den einstündigen Fernsehauftritt ihrer Parteivorsitzenden. „So sachlich, ruhig, präzise und klar kann man über das Thema Flüchtlinge reden“, lobte der nordrhein-westfälische CDU-Chef Armin Laschet. Ausdrücklich versicherte Laschet, der in seinem Heimatland einmal Integrationsminister war, Merkel habe „für die ganze CDU“ gesprochen.
Bei Julia Klöckner, wie der Nordrhein-Westfale ebenfalls eine Stellvertreterin der CDU-Chefin, fiel die Zustimmung deutlich knapper aus. „Sehr souveräne Kanzlerin, macht sie gut und überzeugend bei Frau Will.“ Macht sie gut? Das klingt wie das gönnerhafte Lob einer rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin in spe für eine taumelnde Kanzlerin am Ende ihrer Amtszeit. Tatsächlich hatte sich Klöckner in den vergangenen Wochen mit sehr kritischen Äußerungen zum anhaltenden Flüchtlingsstrom hervorgetan und dabei in eine ähnliche Kerbe wie CSU-Chef Horst Seehofer geschlagen, den Merkel in einer ziemlich absurden Passage des Will-Interviews gleichwohl als Gleichgesinnten zu vereinnahmen suchte.
„Klare Ansagen wären hilfreich gewesen“
Am Dissens in der Union setzt denn auch SPD-Vize Ralf Stegner seine Kritik an. „Merkels „I have a (dream) plan“-Auftritt bei Anne Will muss große Teile der Union verstören, wenn man Seehofer, Klöckner, Wolf & Co. hört“, twitterte der Genosse. Für die Kanzlerin selbst hielt er großes Lob bereit: „Bemerkenswerter Merkel-Auftritt bei Anne Will. Ganz anders als CSU.“
Diese dialektische Form des Angriffs auf den Koalitionspartner durch überschwängliches Lob für die zunehmend isolierte Regierungschefin ist in der SPD aber offenbar nicht abgesprochen. Stegners Parteifreund Johannes Kahrs nahm den Auftritt der Kanzlerin jedenfalls ganz anders wahr. „Schade, dass Merkel heute wieder mal alles im Ungewissen gelassen hat. Klare Ansagen wären hilfreich gewesen. Wieder ne Chance verpasst“, senkte der Sprecher des rechten Seeheimer Kreises kurz nach 23 Uhr den Daumen. Einwände ließ er nicht gelten. „Nur Bauchgefühle“ habe die Regierungschefin geäußert. Viel zu unverbindlich sei sie gewesen, erwiderte er einem Kritiker: „Merkt Ihr nicht, was im Land los ist?“
Ein paar Stunden später schlug sich auch SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi vehement auf die Seite der Kanzlerinnen-Kritiker: Die CDU-Chefin (Originalton bei Anne Will: „Den Plan kann ich nur geben, wenn ich ihn habe.“) gebe keine ausreichenden Antworten in der Krise: „Angela Merkel steht nicht dafür, dass sie ausgereifte Gesellschaftskonzepte auf den Tisch legt, sondern dafür, kurzfristig zu agieren und auf Sicht zu fahren.“ Das ist ein interessanter Einwand zu einem Zeitpunkt, da die CDU-Chefin erstmals in ihrer Amtszeit mit einer fast schon besorgniserregenden lutherischen Glaubensstärke nach dem Motto „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, zu handeln scheint.
„Ich werd noch zum Merkel-Ultra“
Möglicherweise will Fahimi mit ihrem kräftigen Statement aber auch der Merkel-Euphorie etwas entgegensetzen, die sich nach dem menschlich-ruhigen und sympathischen Auftritt der Kanzlerin im Fernsehen in großen Teilen der Netzgemeinde breitzumachen scheint. Dass Merkel auf zentrale Fragen keine Antworten gab, stört da weniger. Vor allem gibt es gute Haltungsnoten. „Ich werd noch zum Angela-Merkel-Ultra“, twittert auch der Berliner Ex-Pirat und heutige Springer-Berater Christopher Lauer. Sehr angetan ist auch Rebecca Harms, die Vorsitzende der Grünen im EU-Parlament: „Man sieht, dass zwei Frauen besser sind als eine ganze Talkrunde“, lobt sie den Merkel-Auftritt bei Will.
Dass die Kanzlerin allerdings äußerst verständnisvolle Worte für den türkischen Präsidenten Recep Erdogan fand und Gründe auflistete, die Türkei zum sicheren Herkunftsland zu deklarieren, kann den Grünen eigentlich überhaupt nicht passen. Das stößt dem Grünen-Bundestagsabgeordneten Özcan Mutlu denn auch sauer auf: „Allen, die das beraten, rate ich Nusayibin oder Cizre zu besuchen. Ich liebe selbsternannte Türkeikenner“, kontert der Parlamentarier mit bitterer Ironie.