Marokko Marokko: Ehemalige politische Gefangene sprechen über Folter

Rabat/Madrid/dpa. - Der Vorgang ist ohne Beispiel in derarabischen Welt. In Marokko sprechen ehemalige politische Gefangeneoffen über Folter, geheime Kerker und willkürliche Festnahmen. IhreBerichte über Staatsverbrechen und Repression in der Zeit von derUnabhängigkeit des nordafrikanischen Landes 1956 bis 1999 werden vomFernsehen direkt übertragen.
Das Königreich bricht das Tabu der so genannten bleiernen Jahre,über die kaum jemand zu sprechen wagte. Es will die Wahrheit über diebrutale Unterdrückung der Opposition offen legen und damit diesesdunkle Kapitel seiner Geschichte abschließen. Die Presse spricht voneinem «Prozess der Katharsis». Als Vorbild dient dieWahrheitskommission, mit der Südafrika einen Schlussstrich unter dieZeit des Apartheidsregimes ziehen wollte.
Bis Februar sagen 200 Opfer der Repression vor der Kommission fürGleichheit und Versöhnung (IER) aus. Sie sprechen über den Krieg 1958im Rif-Gebirge, über die Wellen der Repression nach den gescheitertenAttentaten auf den damaligen König Hassan II. in den 70er und überdie Niederschlagung der Hungeraufstände in den 80er Jahren. Einer vonihnen ist der Französisch-Lehrer Chari El Hou, der 1973 wegenMitgliedschaft in einer linken Organisation festgenommen wurde. Erberichtet über «barbarische Zustände» in den Haftanstalten. «Immerwieder starben vor unseren Augen Mitgefangene an Unterernährung.»
Für die Anhörungen gilt ein besonderer Kodex. Jeder Zeugeberichtet etwa 20 Minuten über seine Erfahrungen. Die Kommission darfkeine Fragen stellen. Den Zeugen ist es untersagt, die Namen vonFolterknechten oder deren Vorgesetzten zu nennen. «Wir sind keinTribunal», begründet der IER-Präsident Driss Benzekri diese Regel.Der 54-Jährige hatte selbst wegen Zugehörigkeit zu einermarxistischen Gruppierung 17 Jahre in Haft gesessen. Anfang 2004erhielt er von König Mohammed VI. den Auftrag, die Anhörungen zuorganisieren.
«Das Verfahren ist ein wichtiger Meilenstein bei der Aufarbeitungschwerer Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit», lobte AmnestyInternational das Vorgehen der Marokkaner. Allerdings gibt es auchKritik an den Anhörungen. «Man begnügt sich mit einer Halbwahrheit,weil die Folterer nicht namhaft gemacht werden», beklagt dieMenschenrechtsorganisation AMDH. «Wir wissen, dass viele Schuldigenoch in Amt und Würden sind. Sie dürfen nicht straffrei davonkommen.»
Anderen geht die Suche nach der Wahrheit dagegen zu weit. «Wirdman nun über Hassan II. richten und dessen Regime den Prozessmachen?», fragt die Wochenzeitung «Maroc Hebdo». Die Anhörungenbergen nach Ansicht des Blattes die Gefahr, dass die gesamteMonarchie in Frage gestellt wird. «Von einem bestimmten Punkt anwerden die Grundlagen der Legitimität des Regimes erschüttert.»
Der Hintergrund dieser Befürchtungen: König Mohammed VI. hat denThron 1999 von seinem Vater Hassan II. nach dessen Tod geerbt. Inanderen Ländern wie in Südafrika war der Einberufung einerWahrheitskommission ein Regimewechsel vorausgegangen. In Marokko gabes einen solchen historischen Bruch nicht. Nur der König ist einanderer.