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Marianne Birthler im Interview Marianne Birthler im Interview: "Wir haben etwas zu verteidigen"

Von Markus Decker 27.01.2017, 17:35
Die Bündnis 90/Die Grünen-Politikerin Marianne Birthler wäre beinahe die erste Bundespräsidentin Deutschlands geworden.
Die Bündnis 90/Die Grünen-Politikerin Marianne Birthler wäre beinahe die erste Bundespräsidentin Deutschlands geworden. AKUD/Lars Reimann

Berlin - Es fehlte nicht viel und die langjährige Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, wäre Bundespräsidentin geworden. Kanzlerin Angela Merkel hatte die einstige Grünen-Politikerin im Auge. Auch die CSU schien nicht abgeneigt. Warum es trotzdem nicht dazu kam, schildert die 69-Jährige hier.

Frau Birthler, Sie hätten Bundespräsidentin werden können, haben aber in letzter Minute abgesagt. Warum?

Ich bin gesundheitlich nicht mehr fit genug für das Amt. Die Vorstellung, nicht auch mal ein paar Wochen kürzer treten zu können, hat mich veranlasst, abzusagen. Aber reizvoll war es schon.

Sie haben ja auch ein paar Tage überlegt.

Ja, ungefähr über drei Tage. So etwas wird man schließlich nicht alle Jahre gefragt. Aber wenn ich mich nicht stark genug fühle, ist es eben doch besser, ich lasse es bleiben.

Was genau hätte Sie gereizt?

Wir leben in Zeiten, in denen Freiheit und Demokratie in die Defensive geraten sind. Wir sollten alles versuchen, beides wieder zum Leuchten zu bringen. Auch, was wir 1989 erreicht haben, könnte durchaus noch etwas blank geputzt werden. Dies ist – mit oder ohne hohes Amt – eine Herausforderung: Wir haben wirklich etwas zu verteidigen.

Was hätten Sie blank putzen wollen?

Die Erinnerung daran, dass wir uns von einer Diktatur befreit haben. Und deshalb Freiheit und Demokratie umso mehr schätzen. Denn ich wüsste gar nicht, wo ich lieber wohnen wollte als hier – allein schon politisch betrachtet. Deutschland ist ein freies Land mit nach wie vor freien Medien, mit Entwicklungsmöglichkeiten für alle, die ein Ziel verfolgen. Hier leben Menschen zusammen, die sehr verschieden sind und auch verschieden sein dürfen.

Ich will die vielen Probleme, die uns zu schaffen machen, nicht herunterspielen. Aber es liegt nicht nur an unserem Wohlstand, dass uns viele Menschen beneiden und gern hier in Deutschland leben würden. Und ich bedauere, dass Menschen das scheinbar Selbstverständliche nicht mehr wertschätzen und sogar madig machen.

Ist das in Deutschland Ihr Eindruck?

Ja. Ich muss manchmal an einen russischen Journalisten denken, neben dem ich vor Jahren auf einem Podium saß. Er wurde gefragt, wie er die Zukunft seines Landes einschätzt. Der Journalist antwortete: „Es ist ziemlich leicht, aus einem Aquarium eine Fischsuppe zu machen. Umgekehrt ist es viel schwieriger.“ Damit will ich sagen, dass das, was unser Leben lebenswert macht, langsam entsteht und schnell zu zerstören ist. Das haben wir in Deutschland schon mal erlebt. Und manche Länder, die einst geblüht haben, sind heute eine Wüste. Man darf nie glauben, dass alles, was man hat, sicher ist.

Wie erklären Sie es sich, dass diese Wertschätzung nicht mehr da ist?

Vielleicht ist es wie bei einem Menschen, der nie krank war und deshalb Vorsorge und gesunde Lebensführung für überflüssig hält. Vielleicht sind wir auch ein wenig verwöhnt – durch Wohlstand, Sicherheit und Freiheit über Jahrzehnte. Und vielleicht ist es Politik und Medien auch nicht hinreichend gelungen, komplizierte Dinge plausibel zu machen und eine Sprache zu sprechen, der Menschen gerne zuhören und die sie verstehen. Politik ist nun mal ein kompliziertes Geschäft. Da bleiben viele außen vor.

Das betrifft übrigens auch Ämter und Dienststellen, wenn Sie so wollen, die „Benutzeroberfläche“ der Demokratie. Da erfahren die meisten Menschen hautnah, ob sie ernstgenommen und respektvoll behandelt werden oder nicht – mit Politikern haben sie ja selten persönlichen Kontakt. Das, was wir bürgerfreundliche Verwaltung nennen, lässt manchmal noch sehr zu wünschen übrig.

Sehen Sie bei all dem Ost-West-Differenzen?

Meinungsforscher stellen nach wie vor Unterschiede fest. Im Osten verfangen populistische Parolen stärker, Sicherheit zählt mehr als Freiheit, Vielfalt wird als bedrohlich erlebt. Aber Vorsicht – das gibt es alles im Westen auch. Der Unterschied ist nicht prinzipiell, sondern graduell. Das hat mit der ostdeutschen Geschichte zu tun. Es gibt jedenfalls noch Unterschiede. Zum Beispiel ist das Risiko, Opfer von Gewalt zu werden, für Menschen mit dunkler Hautfarbe im Osten nach wie größer. Trotzdem will ich den Osten nicht schlecht reden. Denn es gibt es auch dort viele Menschen, die sich engagieren.

Birthler über die DDR, die Offenheit gegenüber Zuwanderern und Bundespräsident Joachim Gauck

Mit der ostdeutschen Geschichte meinen Sie die DDR.

Ja. Auf Nationalsozialismus und Krieg folgte eine neue Diktatur. Und die hinterließ natürlich Spuren. Menschen, die bis 1989 in der DDR lebten, kannten Demokratie und Freiheit allenfalls aus den Westmedien. In der DDR waren Eigeninitiative und Anderssein verdächtig. Wer den von der SED propagierten Schein-Wahrheiten nicht glaubte,  gegen den Strich dachte oder redete, wer einfach nur anders leben wollte als erlaubt, hatte mit Diskriminierungen oder Strafe zu rechnen.

Freies Denken, offene Rede, Toleranz – damit wird ein Mensch nicht geboren, dafür braucht es Ermutigung und Übung. Die Voraussetzungen dafür waren in der DDR denkbar schlecht. Die großen Veränderungen nach 1989, die viele Menschen verunsichert haben, kamen dann noch hinzu.

Kann es vielleicht auch sein, dass der westdeutsche Common Sense informelle Gebote heraus gebildet hat, die viele Ostdeutsche so nicht mehr akzeptieren wollen?

Welche meinen Sie?

Etwa wie offen man für Zuwanderer zu sein hat.

Abgrenzung und Fremdenhass sind zumeist Früchte von Angst, Unsicherheit und einem Mangel an Selbstbewusstsein. Kein Wunder also, dass sie im Osten ein größeres Problem darstellen. Das wurde nicht besser in der Begegnung mit dem stark ausgeprägten und, wie ich finde, manchmal auch überzogenen Selbstbewusstsein im Westen. Es gab dort anscheinend wenig Anlass, sich selbst und die eigene Welt infrage zu stellen.

Ich habe das vor allem in den 90er Jahren zwiespältig erlebt: Einerseits empfand ich den westlichen way of life, die Meinungsvielfalt, die öffentlichen Debatten und das Selbstbewusstsein der Menschen als wohltuend und befreiend. Andererseits gingen mir die Menschen, die immer wussten, was richtig ist, manchmal auch gewaltig auf die Nerven. Und das, obwohl ich ja immerhin zu denen gehörte, die sich nicht vor der Zukunft fürchten mussten. Da kann ich nur ahnen, wie es jenen ging, die ihren Beruf oder alles, woran sie zuvor fest glaubten, verloren hatten.

Kann es sein, dass Ostdeutsche diesen westdeutschen Common Sense als autoritär empfinden?

Sie würden es bestimmt nicht so nennen. Eher ist von westlicher Überheblichkeit die Rede. Und wer hat im Osten schon gelernt, auf so etwas souverän zu reagieren! Wenn ich es richtig sehe, hat die weitverbreitete Abneigung gegen den Westen in letzter Zeit aber eine andere Richtung genommen: Jetzt sind es vor allem Regierungen, Parlamente und Medien, die die Wut auf sich ziehen.

Das ist gefährlich. Die Fähigkeit, auf zivile Art mit Meinungsverschiedenheiten umzugehen, ist Grundlage eines friedlichen Gemeinwesens und der Demokratie überhaupt. Wenn Menschen dazu nicht in der Lage sind, schäumt diese unkontrollierte Wut hoch, die uns zu Recht abstößt und Sorgen bereitet.

Das ist eine ganz traurige Art von sozialer und kultureller Verwahrlosung. Wenn Menschen Politiker als „Volksverräter“ beschimpfen und Journalisten als „Lügenpresse“, dann ist das für mich das Gegenteil von dem, was 1989 der Ruf „Wir sind das Volk“ meinte.

Kommen wir noch mal zurück zum Bundespräsidenten-Amt. Bereuen Sie jetzt, dass Sie nicht zehn Jahre jünger sind?

Ach wo! Ich habe so viele spannende Sachen gemacht in meinem Leben – da wünsche ich mir nachträglich doch kein anderes Leben. Für die jetzige Situation war’s die richtige Entscheidung.

Sie wären die erste Frau gewesen in Schloss Bellevue.

Wenn es nicht um mich gegangen wäre, dann hätte ich das auch ganz prima gefunden. Es war ja auch durchaus verlockend. Aber es hätte mir Angst gemacht, fünf Jahre durchfunktionieren zu müssen.

Wie bewerten Sie die Amtszeit von Joachim Gauck? Sie sind ja befreundet.

Er ist ein sehr guter Bundespräsident. Vor allem, indem er sich treu geblieben ist und dem Amt trotzdem Genüge getan hat. Es ist ihm gelungen, das richtige Maß zu finden zwischen Farbe bekennen und Zurückhaltung.

Eben deshalb ist das Präsidenten-Amt in gewisser Weise auch ein unmögliches Amt, oder?

Ja. Ich kenne Joachim Gauck als einen, dem eigentlich das Herz auf der Zunge liegt. Das heißt, er musste ganz schön dazulernen. Und man begegnet als Bundespräsident ja nicht nur den Klugen und Gebildeten landauf und landab, sondern kriegt es daneben mit Rüpeln aus aller Welt zu tun. Und muss auch dann immer noch freundlich sein! Das ist nicht so einfach, glaube ich.