Literaturempfehlung Literaturempfehlung: Jens Gieseke beschreibt «Geschichte der Stasi»
Hamburg/dpa. - Der letzte Auftritt von Stasi-Chef Erich Mielke vor der DDR-Volkskammer war für viele Menschen glatter Hohn. «Ich liebe doch alle, alle Menschen.» Die Worte des Mannes, der Jahrzehnte die Fäden im Ministerium für Staatssicherheit in den Händen hielt, gingen in Buh-Rufen und Gelächter unter. Verheerend muss die Wirkung jedoch auf die Mitarbeiter in den eigenen Reihen gewesen sein. Bis dahin waren sie Teil einer zentralen Säule der Herrschaftsstruktur, eines umfassenden Bespitzelungs- und Überwachungssystem mitDenunziation und Formen des «leisen Terrors». Als Mielke im November 1989 nach dem Mauerfall in der Volkskammer ausgebuht wurde, war der Zerfall der «Firma», der «VEB Horch und Guck», unaufhaltsam.
Die Staatssicherheit galt jedoch noch bis in den Januar 1990 hinein als stärkstes Potenzial für einen «Gegenschlag». Die Auflösung des umfassenden Geheimapparates mit zuletzt über 91 000hauptamtlichen und mehr als 170 000 inoffiziellen Mitarbeitern gehörte zu den zentralen Forderungen. «Außerdem sollten diejenigen, die Menschen- und Bürgerrechte viele Jahre lang mit Füßen getreten hatten, zur Rechenschaft gezogen werden», schreibt derwissenschaftliche Mitarbeiter der Gauck-Behörde, Jens Gieseke, in seiner Studie «Mielke-Konzern. Die Geschichte der Stasi 1945-1990».
«Eine solche Anhäufung von Verfolgungs- und Sicherheitskompetenzen unter dem Dach eines einzigen geheimen Sicherheitsapparates war selbst für die kommunistischen Diktaturen nicht selbstverständlich»,heißt es in dem Band. In seiner nüchternen historischen Analyse beschreibt Gieseke die Stasi von den Zeiten des Hochstalinismus bis zum Ende des riesigen «Gemischtwarenkonzerns» in Sachen Sicherheit inder Wendezeit. Angesichts der Grenzen der Systemloyalität in der Bevölkerung holte das Ministerium das Möglichste an Informationen heraus. «Es betrieb dieses Geschäft mit perfider Akribie und nachgerade preußischer Akkuratesse», stellt der Verfasser fest.
Spitzenagenten im Bundeskanzleramt, beim Bundesnachrichtendienst oder bei der Nato dokumentierten das «Weltniveau» der DDR-Spionage. «Unstrittig sind die Potenzen der Staatssicherheit, sich über jeden DDR-Bürger ein umfassendes Bild zu machen. Die klassischen geheimdienstlichen Überwachungstechniken hatte sie zur Perfektion getrieben», urteilt Gieseke. Wohl jeder habe die Präsenz der Stasi gespürt. Dieses Klima habe tatsächlich das soziale Leben vergiftet und zu einer ständigen Vorsicht geführt.
Die über ein flächendeckendes Netz von Mitarbeitern gewonnenen Informationen konnte die Stasi bis zuletzt verarbeiten, doch wagte der Apparat trotz der wirtschaftlichen Entwicklung in der DDR keine Kritik an der wirtschaftspolitischen Entscheidungszentrale, dem SED-Zentralkomitee. Die immensen Investitionen in den Sicherheitsapparat belasteten die Finanzen der DDR beträchtlich. Eben dieser Apparat hätte Gieseke zufolge in der Wendezeit einen «Gegenschlag» aus eigener Kraft organisieren können, doch blieb die «geballte Faust inder Tasche».
Gieseke zieht in seiner Analyse über die Entwicklung des komplexen Apparates des MfS den roten Faden von ersten Ambitionen einer Geheimpolizei Ende der 40er Jahre bis zu der noch andauernden Aufarbeitung der jüngsten deutschen Geschichte. Dabei zeigt er die Wendungen und den steten Ausbau des «Mielke-Konzerns» vor dem Hintergrund politischer Ereignisse wie dem Juni-Aufstand 1953, dem Mauerbau oder später der Entspannungspolitik und hebt bestehende Forschungslücken hervor. Mit der Bilanz soll die Stasi als Teil von Staat und Gesellschaft der DDR und der deutschen Nachkriegsgeschichte besser verstanden werden. «Einer Gesamtdarstellung der Geschichte desMinisteriums für Staatssicherheit der DDR stehen vorläufig noch der auf vielen Gebieten disparate Forschungsstand und der mangelnde zeitliche Abstand zu den Geschehnissen entgegen», urteilt er.
Jens Gieseke: «Mielke-Konzern. Die Geschichte der Stasi 1945-1990», Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/München, 296 S., Euro 18,90