Kommentar zur Flüchtlingspolitik Kommentar zur Flüchtlingspolitik: Thomas de Maizière stürzt die Koalition ins nächste Chaos

Soll man das wirklich glauben? Die Einigung der Koalitionsspitzen auf diverse, ziemlich überschaubare Änderungen beim Asylrecht war noch keine 24 Stunden alt, als Innenminister Thomas de Maizière einen weitreichenden Kursschwenk verkündete. Der Familiennachzug für syrische Flüchtlinge werde ab sofort gestoppt, sagte der CDU-Mann lapidar in einem Radiointerview. Es folgten in Berlin: große Verwirrung, Empörung bei der SPD, ein Zurückrudern des Ministers und die Versicherung des Kanzleramtschefs, der Vorstoß sei nicht abgesprochen und werde nicht weiter verfolgt – fürs erste.
Der Vorgang lässt nur zwei Schlüsse zu: Entweder wurde Kanzlerin Angela Merkel wirklich überrumpelt. Dann hat sie ihren Laden nicht im Griff. Oder die Herabstufung der Syrer auf einen niedrigeren Asylstatus ist unter den Koalitionsspitzen durchaus einmal als Möglichkeit besprochen worden, um den Zustrom von Schutzsuchenden zu begrenzen. Bloß war die Umsetzung nicht so schnell geplant. Viel spricht für diese Variante. Dann aber wären die empörten Distanzierungen scheinheilig und verlogen.
Ohne Führung, ohne Plan
So oder so steht die große Koalition nach ihrem Gipfeltreffen vom Donnerstag, das großspurig als Abschluss der Krisenwochen gefeiert wurde, schlechter da als zuvor – ohne erkennbare Führung, ohne Plan, zerstritten. Tag für Tag drängen rund 10.000 Flüchtlinge über die deutsche Grenze. In den Kommunen ist eine beeindruckende Zahl von Ehrenamtlichen und Freiwilligen rund um die Uhr im Einsatz, um die Betreuung der Schutzsuchenden sicherzustellen. Landräte und Bürgermeister mobilisieren alles, was an Leichtbauhallen, Sanitäranlagen und Betten aufzutreiben ist. Nur in Berlin kreist die große Koalition um sich selbst.
Schon seit dem Frühjahr gab es Warnungen deutscher Auslandsvertretungen und der EU-Grenzschutzagentur Frontex, dass mit einem gewaltigen Ansturm von Flüchtlingen zu rechnen sei. Passiert ist bis zum Spätsommer nichts. Seither wird allerorten die Beschleunigung der Verfahren beschworen. Doch die Zahl der Entscheider ist nur wenig gestiegen, und der Rückstau der Verfahren wird immer größer. Selbst in der SPD gibt es hochrangige Amtsträger, die hinter verschlossenen Türen einräumen, eine Zuwanderung von mehr als einer Million Menschen sei kein weiteres Jahr zu verkraften und als letzte Möglichkeit über eine Schließung der Grenzen nachdenken. Gleichzeitig driftet die deutsche Gesellschaft mit beunruhigender Geschwindigkeit auseinander, und der Fremdenhass wird salonfähig.
Viel Streit für ein paar Beschlüsse
Was aber macht die Regierung? Sie streitet wochenlang, um dann ein paar Beschlüsse zu fassen, die - wie die beschleunigten Ausweiseverfahren für zwei Prozent - allenfalls symbolische Wirkung entfalten. Kaum sind die drei Parteivorsitzenden vor die Presse getreten, geht der Zoff noch stärker weiter. Natürlich hat CSU-Chef Horst Seehofer daran einen großen Anteil. Ohne Rücksicht auf die Praktikabilität schießt er immer neue Forderungen ab, um Härte vor dem CSU-Parteitag zu demonstrieren. Aber das Spielfeld des Bayern wäre nicht so weit, wenn die Diskrepanz zwischen Merkels gebetsmühlenartigen „Wir schaffen das“ und der Evidenz nicht so groß wäre. Natürlich muss die Flüchtlingskrise europäisch gelöst werden. Natürlich müssen die Ursachen bekämpft werden. Doch weder das eine noch das andere wird kurzfristig funktionieren.
Gleichzeitig hat Merkel den eigentlich zuständigen Innenminister de Maizière, der überarbeitet und auch überfordert wirkt, auf menschlich schäbige Weise degradiert und stattdessen ihren Kanzleramtschef Peter Altmaier als Flüchtlingskoordinator installiert. Der gilt in der SPD als nicht immer ehrlicher Makler und behandelt die Flüchtlingskrise vor allem als PR-Problem. Die in den Ländern starken Sozialdemokraten wiederum sehen die wachsenden Probleme durch die Zuwanderung, wollen aber nicht ihre linksliberale Klientel vor den Kopf stoßen oder zwischen CDU und CSU zerrieben werden.
Also stampft Schwarz-Rot auf der Stelle, immer lauter und vernehmlicher, ohne in der Sache viel zu bewegen. Das mag die eigenen Funktionäre bei Laune halten. Für dieses Land und für die Demokratie aber ist es verheerend. Wann hätte es je eine politische Legitimation für den Zusammenschluss von 80 Prozent aller Abgeordneten in einer großen Koalition gegeben wenn nicht jetzt, im Angesicht einer gewaltigen kulturellen Umwälzung der Gesellschaft? Versagt die Merkel-Regierung bei dieser Aufgabe, stehen weit mehr als ein paar Prozentpunkte am Wahlabend auf dem Spiel. Das planlose Chaos der letzten Tage und Wochen nährt ernste Zweifel, ob das allen Akteuren klar ist.