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Kalter Krieg Kalter Krieg: Als Karl Kahlfraß kam

Von STEFFEN KÖNAU 27.08.2010, 16:38

Halle/MZ. - Ganz Washington war bass erstaunt über die Nachrichten aus Europa. Amerikanische Flugzeuge, so beklagten die Regierungen in Ostberlin und Prag im Sommer vor 60 Jahren gleichermaßen, hätten über Kartoffelfeldern in ihren Ländern massenhaft Käfer abgeworfen, um die Ernte zu sabotieren. Radio Moskau trug die Botschaft in die Welt: Eigens gezüchtete Kartoffelkäfer, im Englischen Colorado-Beetle genannt, seien aus Fliegern über die Felder gestreut worden. Ziel sei es, eine Hungersnot auszulösen, um die Regierung in Ostberlin zu destabilisieren.

Bauer Max Tröger aus Schönfels bei Zwickau hatte natürlich nicht ahnen können, dass er eine heiße Schlacht des Kalten Krieges auslösen würde, als er auf seinen Feldern ein apokalyptisches Gewimmel von Kartoffelkäfern bemerkte. Tröger war nur verwundert gewesen, weil die Krabbelviecher eben noch nicht dagewesen waren. Und er hatte sich erinnert, am Tag zuvor zwei Flugzeuge in der Nähe gesehen zu haben. Der Zusammenhang schien ihm klar: Die gewaltige Käferplage konnte nur aus der Luft über ihn und seine Kartoffeln gekommen sein.

Aber nicht nur über ihn. Auch in Thüringen und Sachsen-Anhalt entdeckten Bauern massenhaft Tiere der Art Leptinotarsa decemlineata aus der Familie der Blattkäfer - gelb-schwarz gestreift und so gefräßig, dass 30 Weibchen mit ihren Nachkommen innerhalb eines Jahres einen Hektar kahlfressen. Augenzeugen berichteten immer wieder von Flugzeugen, die sie gesehen haben wollten. Schließlich stimmte die Informationsamt der Regierung ein. Es handele sich bei der Käferplage eindeutig um einen "verbrecherischen Anschlag der anglo-amerikanischen Imperialisten auf unsere Volksernährung". Natürliche Ursachen könnten ausgeschlossen werden, versicherte Landwirtschaftsstaatssekretär Paul Merker. "Die Zahl der Käfer ist bis zu mehreren tausend Prozent größer als die Zahl der Ei-Gelege". Ein klarer Hinweis auf Diversion. "Welch ein Ausmaß von Verworfenheit und tödlichem Hass muss sie beherrschen, um sie zu diesen ungeheuerlichen Anschlägen zu treiben!", wetterte die "Freiheit".

Zumindest der Augenschein gab der Propaganda recht, wie auch Journalisten aus Polen, China und Italien notierten, die von der DDR-Regierung auf Bauer Trögers Feld gefahren wurden. "Kartoffelkäfer sind kleiner als eine Atombombe", schrieben sie in einem Offenen Brief an die Völker der Welt, "aber auch sie sind eine Waffe der US-Imperialisten im Kampf gegen die friedliebenden Arbeiter und Bauern Ostdeutschlands". Die Zahl der vom nun "Amikäfer" genannten Schädling befallenen ostdeutschen Gemeinden stieg von 945 Ende Mai auf fast 2 000 Ende Juni, die Zahl der gefundenen Käfer-Herde explodierte von 5 061 auf 18 000. Noch 1949 waren nur 5,9 Prozent der Anbaufläche befallen gewesen, jetzt waren es mehr als dreimal so viel. In der DDR wurde zu "Sondersuchtagen" gerufen, an denen von Kind bis Greis alle ausrücken sollten, um die Pflanzen von dem Schädling zu befreien, den der "US-Imperialismus" benutze, den friedlichen Aufbau im demokratischen Deutschland zu stören.

Obwohl aus den USA nur laue Dementis kamen, in denen die DDR-Propaganda bündig Propaganda genannt wurde, wusste das DDR-Landwirtschaftsministerium längst, dass es keine Terrorflüge mit Käferbomben gab. Sachlich stellte ein interner Bericht des Pflanzenschutzdienstes fest, dass günstige Witterung und die schon seit Ende des 18. Jahrhunderts anhaltende Ost-Wanderung der Tiere für die Plage verantwortlich gemacht werden müssten.

Doch die junge DDR war auf jeden Feind angewiesen, gegen den sich das Volk gemeinsam stemmen konnte. Den gesamten Sommer 1950 lang trommelten die Schlagzeilen also weiter zum kollektiven Kampf gegen "Karl Kahlfraß", wie ein Bilderbuch für Kinder den "Amikäfer" nannte. Auch nach Ende der Kartoffelernte wurde die Legende von der geheimen CIA-Aktion weitergesponnen und ausgeschmückt. Bis sie eines Tages verschwand wie von Zauberhand.

1951 gab es noch einen letzten kleinen Zeitungsbericht über einen "heimtückischen Käferabwurf" bei Gardelegen, den einige Kinder beobachtet haben wollten. Danach aber hörten die DDR-Bürger nie mehr von der hinterlistigen Biobombe der Imperialisten. Die es nach allen Unterlagen, die sich in den inzwischen geöffneten CIA-Archiven aus dieser Zeit finden, in Wirklichkeit auch nie gegeben hat.