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Japan Japan: Ein Land sehnt sich nach Normalität

Von Lars Nicolaysen 29.02.2012, 08:24
Luftaufnahme vom Atomkraftwerk Fukushima. (ARCHIVFOTO: DPA)
Luftaufnahme vom Atomkraftwerk Fukushima. (ARCHIVFOTO: DPA) TEPCO

Fukushima/dpa. - Entlang der Straße türmen sich Berge voller Trümmer. Ein Sofa steckt im Schnee, daneben liegen zerborsteneMöbel. Aus den Schutthaufen ragt Spielzeug. Etwas weiter stehengrotesk zerquetschte Autowracks in penibler Ordnung auf einemParkplatz aufgereiht. So wie hier in Kamaishi in der nordostjapanischen Provinz Iwate sieht es an vielen Stellen in Japans Katastrophengebieten aus. Die Trümmer des Erdbebens und des Tsunamis vom 11. März 2011 sind ein Jahr nach der schlimmsten Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg aufgeräumt, aber längst nicht beseitigt.

Mehr als 15 000 Menschen verloren durch den Tsunami ihr Leben,mehr als 3000 werden noch vermisst. Im Westen ist es jedoch der GAU im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi in Folge des Erdbebens und Tsunamis, der zum Inbegriff der Tragödie von «3/11» geworden ist. Dabei hat die schlimmste Atomkatastrophe seit Tschernobyl selbst kein einziges direktes Todesopfer gefordert.

Wer heute, ein Jahr nach der Dreifach-Katastrophe, durch dieHauptstadt Tokio geht, könnte meinen, die weltweit drittgrößteIndustrienation sei zur Normalität zurückgekehrt. Das kollektiveStromsparen der ersten Monate scheint vergessen, und das, obwohl nach Sicherheitsüberprüfungen nur noch 2 der 54 Atomkraftwerke des Landes am Netz sind. Während in Deutschland der GAU zu einer Kehrtwende der Politik führte und die Regierung den Ausstieg aus der Atomkraft beschloss, verhalten sich die Japaner ziemlich unaufgeregt. Die Beteiligung an Demonstrationen gegen Atomkraft ist zwar spürbar gewachsen, insgesamt aber weiter gering. Gerade erst verkündete dieRegierung die Kaltabschaltung der Reaktoren in Fukushima, sie seien nun unter Kontrolle, die Notfallphase beendet.

Doch der Schein trügt. Die Katastrophe ist in Japan weder vorüber, noch vergessen. Noch immer müssen Tausende von Menschen aus den Tsunami-Gebieten und den Evakuierungszonen um das havarierte Atomkraftwerk in Behelfsunterkünften leben, viele ohne Aussicht, wie es mit ihnen weitergehen soll. Die Flutwelle hat nicht nur ihre Häuser zerstört, sondern auch ihre Arbeitsplätze und damit ihre Lebensgrundlage. Besonders für die vielen alten Menschen in der Region ist es hart, sie sind aus ihren sozialen Gemeinschaften entwurzelt, wissen nicht, wann und ob sie je wieder heim können.

Andere wissen aus Angst vor Verstrahlung inzwischen nicht mehr,was sie essen sollen und was nicht. Zwar laufen inzwischen Versuche zur Dekontaminierung an, doch viele fragen sich, wie effektiv das ist. Während sich die einen mit der erhöhten Radioaktivität abfinden, machen sich vor allem Mütter große Sorgen um ihre Kinder. Immerhin hat die Regierung jetzt deutlich strengere Grenzwerte für Lebensmittel beschlossen. Das soll auch zur Beruhigung in der Bevölkerung führen. Derweil haben der Staat und die Atombetreiber Probleme damit, die lokalen Regierungen zum Wiederanfahren der zu Inspektionen abgeschalteten Atomkraftwerke im übrigen Land zu bewegen. Aus den Regionen kommt spürbarer Widerstand gegen dieAtompolitik.

Ähnlich hoch wie die Angst vor Strahlung ist auch die Angst derJapaner vor einem weiteren großen Erdbeben. Jüngste Studien weisen auf ein nach «3/11» gestiegenes Risiko eines neuen Großbebens hin, in der Region Fukushima wie auch in Tokio.

Zugleich ist das jahrzehntelange blinde Vertrauen der Japaner inihren Staat und seine Institutionen stark gesunken. Das Gefühl,enttäuscht oder gar belogen worden zu sein, schlägt bei manchem in Misstrauen um. Viele schenken den Informationen, die Regierung und Medien zum Atomunfall verbreiten, kein Vertrauen mehr. Inzwischen weiß man, dass sowohl der Atombetreiber Tepco als auch die zuständigen Behörden auf eine Katastrophe diesen Ausmaßes vollkommen unvorbereitet gewesen sind.

Die Reaktion auf das Unglück sei unkoordiniert gewesen, dieKommunikation mangelhaft, heißt es in einem Bericht einerUntersuchungskommission. Tepco habe wichtige Informationen nurlangsam an die Regierung weitergegeben, diese wiederum schnitt beim Zusammentragen der Informationen schlecht ab.

Kritik gab es auch an ungenauen Regierungsvorgaben für dieEvakuierung der Bevölkerung aus den betroffenen Regionen. EinigeBewohner sollen daher in radioaktiv verseuchte Gegenden gebrachtworden sein. Auch der Umstand, dass 10 von 15 Gremien und Task-Forces der Regierung während des Ausnahmezustands nach dem Erdbeben und Tsunami und dem anschließenden Atomunfall keinerlei Aufzeichnungen von ihren relevanten Sitzungen anfertigten, untergräbt das Vertrauen.

Stattdessen vertrauen die Japaner jetzt umso mehr auf ihreFamilien, Freunde und die örtliche Gemeinschaft. Besonders bei jungen Japanern, die bisher eher geringes Engagement für lokale Belange gezeigt hatten, ändert sich die Einstellung: Viele machen sich am Freitag nach der Arbeit oder dem Studium auf den Weg in den Nordosten, um auch ein Jahr nach der Tsunami-Katastrophe den Opfern weiter zu helfen. Manche Beobachter sprechen in Anlehnung an die 68er-Generation in Europa bereits von der «Generation 3/11».

In der ersten Zeit hatte die Welt mit einer Mischung aus Staunenund Bewunderung am Fernseher verfolgt, mit welcher Gefasstheit und welchem Durchhaltewillen die Japaner mit der Katastrophe umgehen. Damals strömten Freiwillige aus dem ganzen Land herbei, um den Opfern beim nackten Überleben zu helfen. Heute, da die Notlager aufgelöst sind, geht es vor allem um die seelische Betreuung der zu Tausenden in Behelfsunterkünften untergebrachten Menschen. Die Aufräumarbeiten kommen zwar voran, wenn auch für viele zu langsam. Doch bis dieHeimat der Menschen wieder aufgebaut ist, werden wohl noch vieleJahre vergehen. Den Mut verlieren die Japaner dennoch nicht.

Der Tsunami in Japan (GRAFIK: DPA)
Der Tsunami in Japan (GRAFIK: DPA)
dpa Grafik
Die Atomkatastrophe in Fukushima (GRAFIK: DPA)
Die Atomkatastrophe in Fukushima (GRAFIK: DPA)
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Strahlung nach der Atomkatastrophe nach Erdbeben und Tsunami in Japan am 11. März 2011 (GRAFIK: DPA)
Strahlung nach der Atomkatastrophe nach Erdbeben und Tsunami in Japan am 11. März 2011 (GRAFIK: DPA)
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Zahl und Stärke der Nachbeben nach dem 11. März 2011 in Japan (GRAFIK: DPA)
Zahl und Stärke der Nachbeben nach dem 11. März 2011 in Japan (GRAFIK: DPA)
dpa Grafik