Jahrestag Mauerbau Jahrestag Mauerbau: Die vergessene Grenze in Mitteldeutschland

Berlin/Halle (Saale) - Ganz in der Nähe von Abbenrode schneidet die Bundesstraße die Grenze, die als Bächlein durch den Wald tröpfelt. Die Ecker ist schmal, ein kleiner Anlauf und ein beherzter Sprung, und schon wäre das Hindernis überwunden. Heute. Vor 30 Jahren sah das anders aus: Der Wasserlauf, der aus dem Gebüsch flüstert, markierte das Ende der von Imperialisten und Kriegstreibern oder aber das der vom Joch des Kommunismus befreiten Welt. Je nachdem, aus welcher Richtung jemand daraufschaute.
Wer heute von Norden kommt, für den liegt Niedersachsen rechts und Sachsen-Anhalt links. Der Weg ist ein Waldweg, dem niemand ansieht, dass er Teil des Fernwanderweges Grünes Band ist, der sich über 1.390 Kilometer bis zum Dreiländereck zwischen Bayern, Thüringen, Tschechien zieht. Bei Stapelburg atmet die Landschaft Geschichte, von der kaum jemand weiß: Mitten auf dem späteren Grenzstreifen betrieben die Gebrüder Adolf Just und Rudolf Just vor hundert Jahren den „Jungborn“, die erste Öko-Kommune Deutschlands, in der sich unter anderem Franz Kafka behandeln ließ.
Als die DDR ihre Grenzen befestigte, schliff sie die Gebäude der alternativen Kuranstalt, die mit Lehm, Erde und Luft heilen wollte. Und doch ist vom niederplanierten Werk der Justs heute mehr zu sehen als vom eisernen Vorhang, der Europa genau an dieser Stelle zerschnitt. Der Jungborn hat Informationstafeln; Teile der Lichtluftgärten für Damen und Herren wurden wieder aufgebaut. Der Verlauf der DDR-Staatsgrenze hingegen lässt sich nur erahnen. Irgendwo hier muss sie gewesen sein.
Das bleibt zumeist auch so bis hinunter nach Sorge. Immer dort, wo das Unterholz ein wenig lichter aussieht, war damals freies Schussfeld für die DDR-Grenzer. Auf dem Weg nach Süden ist das rechts des Grünen Bandes, das Teil des 10.000 Kilometer langen Europaradweges „Eiserner Vorhang“ ist, der von Kirkenes im Norden Norwegens bis nach Rezovo nahe des bulgarischen Burgas führt. Der frühere Todesstreifen, direkt an den Metallgitterzäunen gelegen, die nach dem Mauerfall zuerst demontiert wurden, ist heute eine grün überwucherte Oase, in der sich seltene Tier- und Pflanzenarten tummeln. Zu DDR-Zeiten wurde hier regelmäßig gepflügt, es wurden Pestizide versprüht und Minen gelegt. Eine Todeszone. Aber kaum war die Grenze weg, holte sich die Natur das verlorene Terrain wieder, als hätte sie immer gewusst, dass sie am Ende doch den längeren Atem haben würde. Mehr als 1.200 Tier- und Pflanzenarten von der Roten Liste der gefährdeten Arten finden hier inzwischen einen Rückzugsraum.
Wer nicht aufpasst, kann sich auf dem früheren Kolonnenweg mittlerweile sogar verlaufen. An vielen Stellen haben die Anliegergemeinden nicht nur die Grenzsteine, sondern auch die „Betonkekse“ genannten Platten aus Wabenbeton, mit denen die DDR-Grenztruppen ihre weitläufigen Wachbereiche zumindest für Trabant-Kübelwagen und Robur-Lkw erschlossen hatten, gleich nach dem Ende der DDR entfernt. Manchmal ist so weder der schmale sogenannte Kontrollstreifen noch der 500 Meter breite anschließende Schutzstreifen erkennbar, den Fluchtwillige überwinden mussten, ehe sie überhaupt nur in die Nähe des Metallzaunes kamen. An anderen Stellen ist unklar, wie die DDR-Grenzer es schafften, diese Grenze überhaupt zu bewachen. Westlich von Ilsenburg etwa ist das Ecker-Tal so tief eingeschnitten, dass die DDR entschied, den Grenzzaun weitläufig vor dem Grenzwald aufzustellen.
Kaum Informationstafeln am Grenzwanderweg
Der Grenzwanderweg, der die Erinnerung an die deutsche Teilung wachhalten will, verzichtet weitgehend auf Informationen und Hinweise zur Geschichte. Selten nur finden sich Rudimente der Geschichte am Wegesrand. Betonschächte, in denen ehemals Kabel lagen, schauen aus dem Unterholz. Und Gräben, die als Sperre für sogenannte Grenzdurchbrecher dienen sollten, die mit dem Auto kamen. Erst auf der Staumauer des Eckerstausees findet sich der erste Grenzstein, mit vom Wetter gebrochenen Kanten. Nach 1961 betrieben die Harzwasserwerke im Westen die Talsperre mehr als zehn Jahre lang, ohne dass ihre Mitarbeiter die Fernwasserleitung am Ostufer warten durften. Drüben, keine hundert Schritt weit weg, war für die eine Seite so unerreichbar fern wie für die andere.
Ein Stück entfernt steht ein Gedenkschild für den 20-jährigen Peter Müller aus Gernrode und den 17-jährigen Klaus Schaper aus Elbingerode, die hier durch Minen zerfetzt wurden. Es ist eine schmucklose Tafel direkt an der Stelle, an der Schaper verblutete. Neun Zeilen Text. Gleich nebenan erinnert ein Schild an die vor 200 Jahren verschwundene Ramser Sägemühle. In 20 Zeilen.
Die Landschaft ist offen, bewachsen mit grünem Gras. Ein paar Tannen haben sich bisher in den Todesstreifen vorgewagt. Wo Bundesstraßen die frühere Grenze kreuzen, stehen große Gedenktafeln. „Hier waren Deutschland und Europa bis zum 12. November 1989 um 14.30 Uhr geteilt“, heißt es zwischen Elend und Braunlage, wo das Flüsschen Bremke Weltsysteme trennte. Heute liegt hier neben einer Infotafel mit Bildern von durch Tiefschnee stapfenden DDR-Grenzern ein totes Wildschwein. Der in der Mauerfall-Euphorie gesetzte Gedenkstein für Grenzöffnung ist ein Freiluftklo. Die Vergangenheit ist vergangen. Selbst die Erinnerung vergeht schon.
Gleich nebenan aber weicht der Waldweg wieder den Betonkeks-Platten. Ein weiter Himmel spannt sich blau über dem Grünen Band, das im europäischen Fernwanderwegverzeichnis als EV 13 bezeichnet wird, aber eigentlich nur für Hartgesottene wirklich durchzuwandern ist. Im Bereich um den Brocken gibt es keine legalen Übernachtungsmöglichkeiten, die nicht wenigstens fünf bis zehn zusätzliche Wanderkilometer nach Ost oder West bedeuten. Entfernt man sich so von der Grenze, die einem unter dem Wanderstiefel manchmal abhanden kommt, tritt sie mit einem Male deutlich hervor.
Zwischen Sorge und Braunlage, ganze acht Kilometer voneinander entfernt, verkehrt kein Bus. Die Bahn fährt, würde einen aber nur mit dreimal Umsteigen und in 3,5 Stunde hinüber in den Westen bringen. Der Taxifahrer schließlich fragt verstört: Und was wollten Sie hier im Osten?
Der Ex-Bundesgrenzschützer Wolfgang Röhl bietet geführte Grenzwanderungen an: wolfgangroehl.de