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Interview mit Wolfgang Benz Interview mit Wolfgang Benz: «Thesen am Stammtisch offenbar weithin verbreitet»

Von Torsten Harmsen 29.08.2010, 13:16
Der Berliner Historiker Wolfgang Benz. (FOTO: DPA)
Der Berliner Historiker Wolfgang Benz. (FOTO: DPA) dpa

Berlin/MZ. - Für Wolfgang Benz sind die Thesen aus Thilo Sarrazins Buch gesellschaftlich gefährlich.

Kann man Sarrazins Äußerungen als übertriebene Thesen eines Einzelnen sehen?

Sarrazin ist kein Einzelgänger, sondern ein Prominenter, der das ausdrückt, was viele fühlen und glauben. Dafür spricht unter anderem, dass die erste Auflage seines Buches noch vor dem Erscheinen vergriffen ist, dass es nachgedruckt wird, bevor es einen Käufer hatte. Die darin vertretenen Thesen sind am Stammtisch offenbar weithin verbreitet. Hier werden Überfremdungsängste artikuliert, wie man sie seit langer Zeit kennt. Das ist demagogisch, das ist populistisch, und das ist wirkungsvoll.

Denkt Sarrazin wirklich so oder spielt er damit?

Das ist natürlich schwer auszumachen. Aber alles spricht dafür, dass er wirklich so denkt. Er hat Interviews gegeben mit ähnlichem Inhalt. Jetzt legt er nach. 466 Buchseiten – so etwas bringt man nicht einfach so aus dem Unterbewussten gegen den eigenen besseren Willen und Verstand hervor. Daran muss man monatelang arbeiten. Das muss man durchdenken und formulieren, auch wenn es dann so grobschlächtig herauskommt.

Warum zieht Sarrazin vor allem gegen muslimische Migranten zu Felde. Warum gerade diese Gruppe?

Diese Gruppe ist dank dem rührigen Tun von Populisten seit einiger Zeit besonders im Visier. Ganz offensichtlich soll diese Gruppe der Muslime besonders beleidigt werden. Die sogenannten Islamkritiker, die seit einigen Jahren ihr Wesen treiben und alles Unglück, das die Menschheit treffen kann, den Muslimen zuschreiben, waren offensichtlich bei Herrn Sarrazin erfolgreich.

Sehen Sie hier auch eine Parallele zum Antisemitismus, mit dem Sie sich ja seit Jahrzehnten beschäftigen?

Das ist sicher eine nicht ganz leicht zu beantwortende Frage. Weil einem dann gerne unterstellt wird, mit dem Vergleich setze man auch gleich. Aber natürlich darf man gesellschaftliche Phänomene vergleichen. Man muss sie vergleichen, um Klarheit zu gewinnen. Und wenn eine Gruppe, egal welche, aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Ethnizität, ihrer Religion kollektiv verteufelt wird, dann hat das durchaus Parallelen zum Antisemitismus.

Der Welt am Sonntag antwortete Sarrazin auf die Frage, ob es eine genetische Identität gibt, dass alle Juden ein bestimmtes Gen teilten. Er will das aber nicht rassistisch verstanden wissen. Fällt Ihnen eine andere Deutung ein?

Nein. Wenn ich eine Gruppe genetisch definiere, dann ist das purer Rassismus.

Was soll nun passieren? Wie müssen Gesellschaft und Politik auf Sarrazins Auftreten reagieren?

Man kann in diesem Land nicht Meinungen verbieten. Man kann nicht einem Menschen einen Maulkorb umhängen. Aber man kann – und meiner Meinung nach muss man – ganz deutlich sagen, was hier passiert. Hier wird nämlich Rassismus, eine Art Kulturrassismus gegen Muslime gepredigt. Hier wird ein Staatsgrundsatz, nämlich Toleranz und das Bemühen um Integration, verletzt. Ich denke, es ist wichtig, dass man sagt: Hier sind die Grenzen unseres demokratischen Konsenses überschritten.

Und man müsste sicher auch den angegriffenen Gruppen beistehen.

In diesem Fall ist Solidarität angesagt, indem aus der Mehrheit heraus ganz deutlich gesagt wird an die Adresse der angegriffenen Minderheit: Wir billigen diese Hetze gegen euch nicht!

Kann man Sarrazin überhaupt noch als Sozialdemokraten bezeichnen?

Das muss die SPD entscheiden. Für mich als wählenden Bürger ist das auf jeden Fall eine Position, die ich nicht in dieser Partei vermute, sondern solche Äußerungen lese ich in den Wahlkampfparolen der NPD.

Thilo Sarrazin ist Bundesbank-Vorstandsmitglied. (FOTO: DDP)
Thilo Sarrazin ist Bundesbank-Vorstandsmitglied. (FOTO: DDP)
AP