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Interview mit Christa Stolle von Terre des Femmes Interview mit Christa Stolle von Terre des Femmes: "Frauen werden mit fürchterlichen Ritualen unterdrückt"

Von Melanie Reinsch 08.12.2015, 17:13
Flüchtlingsfrau aus Nigeria: Es ist eines von 28 Ländern, in denen noch immer Genitalverstümmelung praktiziert wird.
Flüchtlingsfrau aus Nigeria: Es ist eines von 28 Ländern, in denen noch immer Genitalverstümmelung praktiziert wird. dpa Lizenz

Frau Stolle, Gewalt gegen Frauen und Mädchen ist ein schreckliches Thema. Was hat Sie dazu bewogen, dem ihr ganzes Berufsleben zu widmen?

Christa Stolle: Während meines Studiums der Ethnologie und Kulturwissenschaften hatte ich ein Schlüsselerlebnis. In einer Vorlesung ging es um die genitale Verstümmelung von Frauen. Der Professor meinte, dies sei ein Initiationsritus und dieser gehört zur Kultur. Er hat die schädliche Genitalverstümmelung verteidigt. Er stellte sich auf den Standpunkt, dass die Beschneidung von Frauen in manchen Völkern eine lange Tradition habe, deren Sinn wir Menschen aus den Industriestaaten uns nicht anmaßen sollten zu kritisieren. Dieses Erlebnis hat mich an meinem Studienfach zweifeln lassen, weil ich nicht begreifen wollte, dass hier so eine frauenfeindliche Tradition verteidigt wird. Ich habe danach mit anderen Studentinnen gesprochen, die genauso empört waren wie ich. Daraufhin ist in mir der Entschluss gereift, die Menschenrechte von Frauen und Mädchen zu meiner Lebensaufgabe zu machen. Ich habe gemerkt, dass ist das, wofür ich kämpfen möchte.

Terre des Femmes ist in Deutschland die einzige Organisation, die sich diesem Thema widmet. Eigentlich erstaunlich bei so vielen Hilfsorganisationen.

Stolle: Wir sind nicht nur in Deutschland, sondern meines Wissens sogar weltweit die einzigen, die sich explizit den Menschenrechten der Frauen verschrieben haben. Terre des Femmes gibt es nur noch in der Schweiz. Doch wir haben es mit unserem Thema leider schwer, die Wahrnehmung zu bekommen, die dringend nötig wäre.

Hat sich Ihr Engagement trotzdem gelohnt? Ist die Welt seit der Gründung von Terre des Femmes vor 34 Jahren ein kleines bisschen besser geworden?

Stolle: Ich denke schon, dass wir viel bewegt haben. Generell hat sich in jedem Fall das Bewusstsein für Menschenrechtsverletzungen an Mädchen und Frauen geändert. Wir haben das Dunkelfeld erhellt. Mehr und mehr Frauen gehen an die Öffentlichkeit, reden darüber, machen Anzeigen. Als wir 1981 an den Start gegangen sind, hatte zum Beispiel niemand das Thema häusliche Gewalt auf der politischen Agenda. Deshalb haben wir diesen Verein gegründet. Wir haben durch unsere hartnäckige Arbeit erreicht, dass Vergewaltigung in der Ehe seit 1997 ein Straftatbestand ist. Da haben wir zwei Jahre dran gearbeitet. Auch wurde sexuelle und körperliche Gewalt Anfang der 80er Jahre in Deutschland nicht als Asylgrund anerkannt. Das war private Gewalt. Frauen, die unendliches Leid erlitten hatten und es damals irgendwie geschafft haben, nach Deutschland zu fliehen, wurden wieder in ihre Heimat abgeschoben – in den meisten Fällen wohl zurück zu ihren Peinigern. Wir haben erreicht, dass solche Verbrechen als politische Gewalt anerkannt werden und Betroffene deshalb bei uns Asylrecht genießen. Heute ist geschlechtsspezifische Verfolgung ein Asylgrund.

Welche Gesetzesänderungen haben Sie sonst noch durchgesetzt?

Stolle: Wenn deutsche Männer heute nach Asien fliegen und dort Sex mit Mädchen haben, die noch keine 18 Jahre alt sind, dann können sie dafür in Deutschland wegen Vergewaltigung von Minderjährigen verurteilt werden. Das haben wir auch in den 80er Jahren durchgesetzt. Zudem gibt es heute, auch dank unseres Engagements, viele Frauenhäuser, Beratungsstellen und ein Hilfetelefon für Frauen, das 24 Stunden besetzt ist. Davon konnte keine Rede sein, als Terre des Femmes gegründet wurde.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Warum Frauen in vielen Ländern beschnitten werden

Es gibt aber noch viel zu tun, nehmen wir an.

Stolle: So ist es leider. Nehmen wir mal das Thema weibliche Genitalverstümmelung, unser Gründungs- und Schwerpunktthema. Praktiziert wird sie in 28 afrikanischen Ländern, aber auch vereinzelt in Asien, zum Beispiel in Indonesien. Wir gehen davon aus, dass weltweit 125 Millionen Frauen und Mädchen betroffen sind. Davon leben unseren Schätzungen zufolge etwa 25.000 in Deutschland. Und Tausende weitere Mädchen sind davon bedroht. Wir haben zwar keine Beweise, dass Genitalverstümmelungen auch in Deutschland durchgeführt werden. Aber sicher ist, dass viele Mädchen, die in Deutschland leben, in den Ferien ins Ausland gebracht werden, wo sie dieses grausame Ritual erleiden müssen. Wenn es eine deutsche Staatsbürgerin ist, kann das inzwischen verfolgt werden, weil wir da einen eigenen Straftatbestand haben. Vermutlich kommt es auch vor, dass zum Beispiel die Großmutter nach Deutschland zu Besuch kommt und hier die Enkelin beschneidet. In Deutschland sind davon schätzungsweise 6000 Mädchen bedroht. Dass Genitalverstümmelung seit 2013 ein Straftatbestand ist, daran waren wir maßgeblich beteiligt. Das ist unser Erfolg. Vorher fiel das nur unter Körperverletzung.

Warum werden Frauen überhaupt beschnitten?

Stolle: Das ist eine uralte, patriarchalische Tradition. Frauen sollen vor der Ehe jungfräulich bleiben. Deshalb nimmt man ihnen die Klitoris, das Lustzentrum. Das schafft man auch, indem man sie zunäht. Die Sexualität der Frau soll kontrolliert werden. Darum geht es bei der Genitalverstümmelung genauso wie bei Früh-Ehen. Die größte Angst der Männer ist, dass ein Mädchen nicht jungfräulich in die Ehe geht. Daraus resultieren viele schwere Frauenrechtsverletzungen.

Warum machen sich Frauen, die dieses schreckliche Leid über sich ergehen lassen mussten, selbst zu Komplizinnen bei diesem Verbrechen an den eigenen Töchtern oder Enkelinnen?

Stolle: Weil Frauen Teil dieses patriarchalischen Systems sind. Weil Mädchen, die nicht beschnitten sind, in diesen Kulturen keinen Mann finden, der sie heiraten will und damit kaum überleben können. Weil sie sonst als Schlampen bezeichnet und zu Außenseiterinnen gestempelt werden. Unbeschnittene Frauen werden von der Gemeinschaft nicht akzeptiert. Denn in diesen Ländern ist das ganze soziale Leben an der Familie orientiert. Auf sich allein gestellt, haben Frauen dort keine Chance. In diesen Kulturen gibt es keine andere Familienform. Es existiert keine Lebensform der alleinstehenden Frau, die ihr eigenes Geld verdient, eine eigene Wohnung hat, die unabhängig von einem Mann lebt. Die Mädchen werden dazu erzogen, einen Mann zu heiraten, Kinder zu bekommen und diese groß zu ziehen. Für uns ist das schwer nachvollziehbar, man muss das aus der Kultur heraus erklären. Aber es gibt natürlich auch einheimische Frauen, die das Problem erkennen, dagegen arbeiten und fordern, dass Gesetze gemacht werden.

Wie kann man das Problem denn lösen?

Stolle: Wir haben durch unsere Aufklärungsarbeit immerhin erreicht, dass viele Dörfer der Genitalverstümmelung abgeschworen haben. Langfristig lässt sich dieses Problem nur durch eine bessere Bildung lösen. Es gibt aber noch viele andere grausame Verbrechen, die auf der Welt täglich an Frauen begangen werden. Zum Beispiel Zwangsmästen oder Brustbügeln. Alles fürchterliche Rituale, die nur dazu dienen, Frauen sexuell zu unterdrücken und zu unterwerfen. Doch unserer kleinen Organisation fehlen schlicht die Mittel, um auch gegen diese Menschenrechtsverletzungen vorzugehen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Reform des Vergewaltigungsparagraphen 177

Wie sieht es denn mit der politischen Unterstützung aus?

Stolle: Politische Unterstützung bekommen wir schon. Deshalb sind wir auch vor vier Jahren nach Berlin gezogen, vorher waren wir in Tübingen. Da können wir uns nicht beklagen. Im Bundestag und in der Regierung sitzen mittlerweile viele Frauen und einige von ihnen haben große Sympathie für uns, zum Beispiel Familienministerin Manuela Schwesig. Das Thema Gewalt an Frauen liegt ihr sehr am Herzen. Aber natürlich kann sie nicht auf unsere Maximalforderungen eingehen. Gemeinnützige Organisationen haben immer höhere Ansprüche. Denn Politikerinnen und Politiker müssen Kompromisse machen. Natürlich müssen wir auch Lobbyarbeit machen. Aber wir rennen da keine verschlossenen Türen ein, die Bereitschaft ist groß, mit uns über diese Themen zu sprechen.

Und wie schaut es bei der finanziellen Unterstützung aus?

Stolle: Unsere Einnahmen belaufen sich auf rund 1,7 Millionen Euro im Jahr. Das ist nur ein Bruchteil dessen, was große Organisationen wie Amnesty International, Greenpeace oder Unicef bekommen. 53 Prozent sind Spendeneinnahmen und Mitgliedsbeiträge. Fast 4000 Menschen fördern uns regelmäßig. 30 Prozent unserer Einnahmen sind Zuschüsse vor allem von der EU und Aktion Mensch. Der Rest sind Verkaufserlöse, Bußgelder und ab und an mal eine Erbschaft. Wir freuen uns über jede Kleinspende. Wir brauchen aber dringend mehr Großspenden von Unternehmen. Von der Wirtschaft kommt leider nur sehr wenig. Wir hatten ein paar Jahre lang Body Shop als Sponsor. Darüber haben wir uns sehr gefreut.

Wie viele Menschen engagieren sich über das Finanzielle hinaus für Terre des Femmes?

Stolle: Neben rund 25 hauptamtlichen Mitarbeiterinnen, zahlreichen Praktikantinnen und 2000 stimmberechtigten Mitfrauen gibt es bundesweit 24 Hochschul- und Städtegruppen.

Dürfen sich Männer bei Ihnen nicht einbringen?

Stolle: Doch, natürlich, zum Beispiel in Städtegruppen. Männer sind aber nicht stimmberechtigt. In unseren Anfangszeiten waren sie es, doch sie wollten sofort das Heft in die Hand nehmen und machten geltend, dass auch Männer unterdrückt und geschlagen würden. Diese Auseinandersetzungen wollten wir uns ersparen.

Merken Sie, dass durch die Flüchtlingszuwanderungen nun neue Aufgaben auf Sie zukommen, weil viele schwer traumatisierte Frauen nach Deutschland kommen?

Stolle: Noch nicht, aber wir wollen proaktiv tätig werden. Wir wollen ein Patinnenprogramm für geflüchtete Frauen auf die Beine stellen, damit wir bei der Integration von Mädchen und Frauen helfen. Aber wir haben momentan noch kein Geld dafür. Als erste Maßnahme haben wir ein Informationsblatt über die Rechte von Frauen in Deutschland zusammengestellt und in zehn Sprachen übersetzt. Es soll in Flüchtlingsunterkünften verteilt werden.

Was planen Sie für die Zukunft?

Stolle: Aktuell arbeiten wir daran, dass der Paragraph 177, der Vergewaltigungsparagraph, wieder reformiert wird. Bisher gab es nur Verurteilungen, wenn sich die Frau massiv gewehrt hat. Aber auch ein klares „Nein“ sollte dazu reichen. In diese Richtung wollen wir ihn reformieren. Außerdem machen wir weiter mit unserer Kampagne „Stoppt Früh-Ehen“ und sammeln Unterschriften für ein Heiratsalter 18 Jahre ohne Ausnahmen. Und natürlich setzen wir uns weiter gegen Genitalverstümmelung ein.

Was kann jeder Einzelne im Alltag tun, um für die Menschenrechte von Frauen zu kämpfen?

Stolle: Hinsehen, Menschen für das Thema sensibilisieren, sich kümmern. Dass man auch mal nachfragt, wenn man das Gefühl hat, einer Frau geht es nicht gut, einen Flyer mit einer Nummer für Hilfe in die Hand drücken. Man kann auch direkt fragen: ‚Schlägt dich dein Mann?` Das ist heikel, aber das ist besser als unterlassene Hilfeleistung. Wenn wir wirkliche Gleichberechtigung hätten, dann würde die Gewalt an Frauen auch massiv sinken. Laut einer Studie brauchen wir dafür aber noch 118 Jahre.

Christa Stolle, Bundesgeschäftsführerin von Terre des Femmes.
Christa Stolle, Bundesgeschäftsführerin von Terre des Femmes.
Markus Wächter Lizenz
Auch in Deutschland noch immer ein großes Problem: Häusliche Gewalt.
Auch in Deutschland noch immer ein großes Problem: Häusliche Gewalt.
dpa Lizenz