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Gesundheit Institutionen Praxis Integration: Flüchtlinge in Deutschland lernen in Kursen mehr als die deutsche Sprache

Von Kordula Doerfler 12.06.2017, 14:15

Berlin/Ellwangen - Elisabeth Hamouda spricht langsam und deutlich. „Ich bin so oft erkältet“, sagt sie. „Geben Sie mir Tipps, was ich machen soll.“ In das Klassenzimmer senkt sich ein Moment der Stille, des angestrengten Nachdenkens. Dann kommen die Tipps. „Du solltest zum Arzt gehen“, sagt Selvi Zeranek, eine junge Frau im Sari. „Oder spazieren gehen.“

„Und was machen Sie, damit Sie gesundbleiben?“, fragt Elisabeth Hamouda? „Ich trinke jeden Tag einen Whiskey“, sagt ein Mann. Einige lachen, andere schütteln den Kopf. „Ich mache Sport“, antwortet Mohamed Awad, ein junger Syrer.

Es ist ein warmer Vormittag im Mai, in einem Gründerzeit-Gebäude  am Barbarossaplatz im Berliner Bezirk Schöneberg sitzen 18 Menschen aus dem Sudan, aus Sri Lanka, Australien, Syrien, aus Kuba und Italien.

Begriffe für den Alltag

Sie lernen hier in der Volkshochschule (VHS) Tempelhof-Schöneberg Deutsch, in einem der vielen Integrationskurse im Land. Lektion 5 ist gerade dran, es geht um Gesundheit, ein lebenspraktisches Thema also. 400 Stunden haben sie bereits hinter sich, 600 umfasst der Sprachkurs in der Regel, danach kommen noch einmal 100 Stunden Orientierungskurs dazu. Am Ende sollen sie die Prüfung auf dem Niveau B1 ablegen können.

Es ist noch ein weiter Weg für die meisten. Deutsch ist zwar logisch, aber schwer, die Grammatik komplex. Viele Teilnehmer in den Kursen kommen aus Ländern, die eine andere Schrift haben. Zweitschriftlerner heißen solche Menschen in der Sprache der deutschen Behörden. Sie kämpfen mit drei Artikeln, mit Wortungetümen, die aus mehreren Substantiven zusammengesetzt  und besonders in amtlichen Formularen beliebt sind. Volkshochschule ist so ein schönes deutsches Wort.

Ein paar Tage später befassen sich die Kursteilnehmer damit, was genau eine Volkshochschule ist und welche Angebote es dort gibt. Das Wort Angebot verstehen viele, aber sie assoziieren damit Rabatte. Elisabeth Hamouda, eine schmale Frau mit einer randlosen Brille, erklärt geduldig, dass ein Sonderangebot etwas anderes ist als ein Angebot.

Deutsche Leitkultur auf dem Lehrplan

Im Klassenzimmer ist es heiß heute, die Konzentration leidet. Elisabeth  Hamouda unterrichtet seit vielen Jahren in Integrationskursen, freiberuflich, wie fast alle Lehrkräfte. Gelegentlich, das gibt sie zu, kommt sie an den Rand der Geduld. Aber die Erfolgserlebnisse überwiegen bei Weitem. „Es ist sehr schön, wenn man eines Tages mit den Teilnehmern reden kann. Dann hat man ihnen wortwörtlich eine Sprache gegeben.“

Ziel ist, dass die Teilnehmer so gut Deutsch sprechen, dass sie sich im Alltag verständigen können. Es geht aber um mehr als reinen Spracherwerb. Das, was früher „Deutsch als Fremdsprache“ hieß, ist heute ein breit gefächertes Angebot für verschiedene Zielgruppen. Das Zauberwort heißt jetzt Integration, insofern hat Deutschland aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Seit dem Jahr 2005 gibt es Integrationskurse.

Die Zuwanderer bekommen dort das vermittelt, was Innenminister Thomas de Maizière von der CDU deutsche Leitkultur nennt, also deutsche Werte, deutsche Regeln des Zusammenlebens, Grundzüge der Rechtsordnung und des politischen Systems, deutsche Kultur und Geschichte.

Kurse sind verpflichtend

Der Unterricht hier in Schöneberg findet vormittags statt, täglich vier Stunden,  nachmittags müssen die Teilnehmer Hausaufgaben machen. Sie leben in allen Teilen von Berlin, manche in eigenen Wohnungen, andere noch in größeren Unterkünften.

Der Kurs ist ein Spiegelbild der Zuwanderung im Kleinen. Die Teilnehmer werden bewusst gemischt, überall in Deutschland lernen Ausländer aus europäischen Ländern gemeinsam mit Flüchtlingen, Asylbewerbern und Spätaussiedlern.

Verpflichtend sind sie für alle, die nach 2005 eine Aufenthaltserlaubnis bekommen haben oder eine gute Bleibeperspektive haben und kein oder kaum Deutsch sprechen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Nürnberg koordiniert die Kurse zentral und finanziert sie, durchgeführt  werden sie von privaten und öffentlichen Trägern.

Sprache erhöht Chance auf einen Arbeitsplatz

Seit 2015 und 2016 mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland kamen, ist die Nachfrage enorm gestiegen, es gab viel zu wenig Lehrkräfte, die zudem miserabel bezahlt wurden. Nahmen 2015 knapp 180.000 Menschen an Integrationskursen teil, waren es 2016 bereits 340.000, und auch in diesem Jahr werden es kaum weniger sein. Heute sind die Kurse anders zusammengesetzt als früher, die meisten Teilnehmer kommen aus Syrien, gefolgt vom Irak und Eritrea.

Viele lernen für ein neues, ein besseres Leben. „Ich muss schnell Deutsch können, damit ich arbeiten kann“, sagt Mohamed Awad. Der 29-Jährige ist bei der Sache, er trägt ein rotes T-Shirt und einen modischen Kurzhaarschnitt, er lacht gern. Nur wenn er die Geschichte seiner Flucht erzählt, verdunkeln sich seine Züge. Er musste den gefährlichsten Weg nehmen, floh mit seinen Eltern und seiner Schwester aus Damaskus nach Libyen und dann über das Mittelmeer nach Italien. „Es ist alles zerstört in Syrien“, sagt er, jetzt sehr ernst, und wie schwer der Anfang hier sei. Aber Awad will herauskommen aus der Abhängigkeit vom deutschen Staat, am liebsten würde er als Busfahrer Touristen die deutsche Hauptstadt zeigen.

Auch Selvi Zeranek will arbeiten. Sie ist mit einem Deutschen verheiratet, die 39-Jährige gehört zu denen im Kurs, die die Sprache am besten beherrschen. In Sri Lanka war sie Erzieherin in einem Kindergarten, sie träumt davon, ihren Beruf wieder ausüben zu können.  

BAMF fehlen genaue Erfolgszahlen

Das ist auch das erklärte Ziel des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. „Wir wollen, dass aus Leistungsempfängern Leistungsträger werden“, sagt Sandra Schlötzer, in der Riesenbehörde in Nürnberg für die Integrationskurse zuständig. „Alle unsere Programme laufen darauf hinaus, dass wir die Bewerber in den Arbeitsmarkt bringen.“ Wie viele tatsächlich einen Kurs beenden, weiß allerdings auch das BAMF nicht genau, bisher weist die Statistik nur aus, dass im vergangenen Jahr nur knapp die Hälfte die Prüfung für B1 erfolgreich absolviert hat, eine eher magere Erfolgsbilanz.

Um eine Arbeit zu finden, reicht der Kurs in der Regel nicht aus, dazu bedarf es weiterer Fortbildung. Auf dem Niveau von B1 kann man sich im Alltag und in vertrauten Situationen verständigen, mehr nicht, sagt die Dozentin Elisabeth Hamoudi. „Offizielle Situationen kann man damit noch nicht meistern. In fremden Situationen fehlen einfach die Worte.“ Zurück also zu den Alltagssituationen, zum Thema Gesundheit. Die Kursteilnehmer sollen nun schreiben, etwas kompliziertere Sätze ergänzen. „Man kann gesund bleiben, wenn man…“  – das Verb am Ende muss konjugiert werden, das fällt einigen schwer, muss zu Hause noch einmal geübt werden.

Nach dem Unterricht zerstreut sich die Klasse, in der Millionenstadt Berlin fallen die Teilnehmer nicht weiter auf, es gibt so viele ihresgleichen, die hier leben. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller ist stolz darauf, dass in dieser Stadt jeder werden kann, was er sein möchte. Das ist eine Verheißung für Zuwanderer. Aber Berlin bedeute auch Anonymität und Härte, sagt eine Kursteilnehmerin und große Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt.

Büffeln auf dem Kasernengelände

In Ellwangen, einer  barocken Kleinstadt am Ostrand der Schwäbischen Alb, ist das anders. Auch hier büffeln 21 Menschen aus elf Nationen Deutsch,  Träger des Integrationskurses ist das katholische Kolpingwerk. Das Klassenzimmer liegt in einem Gebäude auf einem riesigen Kasernengelände am Rande der Stadt.

Es geht an diesem Tag um Mülltrennung, ein sehr deutsches Thema also. Die Teilnehmer müssen Begriffe auf kleinen Karten sortieren. Soll das, was da steht, zum Altpapier, in die Biotonne oder in den gelben Sack? In Gruppen versuchen sie, das Konzept zu verstehen. Zeitungen, das ist einfach. Aber Getränkekartons? Und wie entsorgt man einen Aludeckel? Was ist das überhaupt?

Polycarpe Atchade und Kameni Kaha Dorothee Caelle blicken sich ratlos an. Atchade kommt aus  der  Elfenbeinküste, der 38-Jährige ist Bauingenieur und lebt seit drei Monaten in Deutschland, im Zuge der Familienzusammenführung. Auch Caelle ist so nach Deutschland gekommen, die junge Frau war Verkäuferin in Kamerun. Die beiden Afrikaner sprechen gut Deutsch, Atchade hat auch schon einen Job. Er ist optimistisch, dass es in Deutschland  nur aufwärtsgehen kann.

Es muss nicht immer Berlin sein

Wer glaubt, dass es in Schmelztiegeln wie Berlin viel einfacher ist, Zuwanderer aufzunehmen, wird in Ellwangen eines Besseren belehrt. 25.000 Menschen leben hier, dazu kamen bis vor ein paar Monaten 4.500 Flüchtlinge, untergebracht in der ehemaligen Kaserne. Heute sind es noch rund 700, sie fallen in dieser Umgebung viel mehr auf als in Berlin. Die meisten Menschen hier sind katholisch, die CDU ist traditionell stärkste Partei. Weil es eine Erstaufnahmeeinrichtung gibt, muss der Landkreis Ostalb selbst keine Flüchtlinge aufnehmen.

„Wir machen es trotzdem“, sagt Karl Hilsenbek, der Oberbürgermeister von Ellwangen. Er ist überzeugt davon, dass Integration in einer kleinen Stadt leichter gelingen kann. Von den Hürden, die der Gesetzgeber beim Zugang zum Arbeitsmarkt aufgebaut hat, hält man im Ellwanger Rathaus allerdings wenig. Hilsenbek ist ein schmaler höflicher Mann, seit 2003 ist der Parteilose im Amt.

Der Stadt geht es gut, die Arbeitslosenquote liegt bei 1,8 Prozent, größter Arbeitgeber ist der Batteriehersteller Varta, bis vor einigen Jahren war es die Bundeswehr. 2011 wurde beschlossen, den Standort zu schließen, 2014 zogen die letzten Einheiten ab. Als die Flüchtlinge kamen, wollte die Stadt sich engagieren; auf ihren eigenen Antrag hin wurde ein Teil des 42 Hektar großen Kasernengeländes zur Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Baden-Württemberg umgewandelt, der Rest stand leer.

Mittel wurden bewilligt

Das soll sich ändern. Landkreis, Stadt und das Kolpingwerk wollen ein Modellprojekt ansiedeln, um das größte Problem in der Region zu bekämpfen. „Wir brauchen dringend gut ausgebildete Fachkräfte“, sagt der Oberbürgermeister. Die Mittel für die Europäische Ausbildungs- und Transferakademie für junge Erwachsene sind bereits bewilligt, junge Leute aus dem EU-Ausland, aber auch Flüchtlinge und andere Zuwanderer sollen im dualen System eine Ausbildung machen und gleichzeitig Deutsch lernen. Der erste Kurs hat bereits begonnen, geplant ist auch, den Auszubildenden eine Unterkunft in der Kaserne anzubieten. „Wir wollen, dass die Teilnehmer so schnell wie möglich in den Arbeitsmarkt kommen“, sagt Dorothea Ewers vom Kolpingwerk.

Das wollen auch die Zuwanderer, sie seien sehr motiviert, sagt der Kursleiter Said Ouabbou. Viele haben weite Wege, reisen in Fahrgemeinschaften aus den umliegenden Dörfern zum Unterricht an. Said Ouabbou ist Marokkaner, er kam vor 20 Jahren nach Deutschland um zu studieren – und blieb. Heute unterrichtet er Deutsch und Arabisch, er kennt die Sorgen, das Gefühl von Fremdheit, das Heimweh. Es sei jedes Mal fast ein Wunder, wenn Menschen, die zuvor kein Deutsch konnten, die Sprache plötzlich sprechen. Ouabbou ist, wie viele andere, die Zuwanderer unterrichten, ein Mittler zwischen den Welten. „Ich habe selbst erlebt, was Integration heißt.“

In Deutschland gehört dazu auch, dass man weiß, was Sperrmüll ist. Der Kurs sortiert wieder.  Matratzen? Ja, bestimmt.  Aber was ist mit dem  Küchenschrank?