Holocaust Holocaust: Spuren ins Dunkel
Halle/MZ. - Ein Leben in den Verwerfungen der Zeitgeschichte: 1914 geboren im Riesengebirge, zur Lehrerin ausgebildet in Halle, die erste Liebe zu einem Nazi-Offizier aus Weißenfels, das gemeinsame Kind, die Stelle als Sekretärin bei einer Nazi-Dienststelle, der Zusammenbruch, der Neuanfang. Joachim Jahns hat nicht lange nachdenken müssen. Er hat das Buch veröffentlicht.
Und plötzlich steckte er mitten in einem Kriminalfall. Erich Steidtmann, ehemals Lisl Urbans große Liebe, nebenbei aber auch Kompaniechef des berüchtigten Hamburger Polizei-Ersatzbataillons 101, wehrte sich gerichtlich dagegen, mit seiner Lebensgeschichte konfrontiert zu werden. Er habe im Ghetto bei der Aufstandsbekämpfung geholfen und hinter den Frontlinien Gefangene als "Zungen" geholt, gestand der Mann, der nach dem Krieg als unbescholtener Polizist in Merseburg arbeitete. Mitglied der SS aber sei er nie gewesen, auch habe er Lisl Urban nicht "auf einer Parkbank geküsst", wie die in ihren Erinnerungen beschrieben hatte.
Joachim Jahns, dessen kleiner Verlag durch die Klage plötzlich in Existenznot geriet, machte sich auf die Spur des in der Nähe von Hannover lebenden Erich Steidtmann, der für seine Beteiligung an der Liquidierung des Warschauer Juden-Ghettos nie belangt worden war. Ein 1965 eröffnetes Ermittlungsverfahren führte zwar zu einer Anklage gegen den SS-Mann mit der Nummer 160 812. Doch das Verfahren wurde 1974 wegen "geringer Schuld" wieder fallen gelassen.
Was der Querfurter bei seinen Recherchen in deutschen, polnischen und österreichischen Archiven findet, ist dann allerdings nicht nur die Geschichte des Erich Steidtmann, in dem Jahns "einen der letzten lebenden Liquidierer des Warschauer Ghettos" vermutet. Sondern viel mehr. Über verschlungene Pfade, die ihn bis zu den Ermittlungsakten der Staatssicherheit zu Nazi- und Kriegsverbrechen führen, stößt Joachim Jahns auf das Schicksal eines anderen SS-Mannes, das den ehemaligen Geschichtslehrer sofort fasziniert: Franz Konrad heißt der Mann, geboren 1906 in Wien, Sohn eines Bergmanns und mit dem Wunsch aufgewachsen, Konzertpianist zu werden. Doch die Zeiten sind nicht so, die Familie ist arm. Nach der 6. Volksschulklasse muss der musikbegeisterte Junge, den sie später den "Ghettokönig von Warschau" nennen werden, zu einem Kaufmann in die Lehre. Konrad ist auf seine Weise Zeuge des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Er ist fleißig, erfolgreich, er heiratet, wird Vater - und arbeitslos. Gerade noch sympathisierte er mit den Sozialdemokraten, nun aber, ausgespuckt von der Gesellschaft, tritt er NSDAP und SS bei. Ein neuer Morgen graut, so scheint es dem 26-Jährigen nach der Machtergreifung durch Hitler. Konrad kämpft. Er führt in der Illegalität vor dem Anschluss Österreichs ans "Reich" einen SS-Sturm, er kommt dafür ins "Anhaltelager" Wöllersdorf, in dem die österreichische Regierung Sozialdemokraten, Kommunisten und Nazis gleichermaßen einsperrt.
Opfer, die sich lohnen sollen. Kaum ist Österreich zur Ostmark geworden, darf Konrad sich "Alter Kämpfer" nennen. Die "Bewegung" sorgt für ihn: Der 32-Jährige, inzwischen Vater von drei Kindern, dient als Verwaltungsleiter in der SS, er wird zum Oberscharführer befördert. Im Dezember 1939 erhält Franz Konrad seine Einberufung - als "Quartiermeister" bei Hermann Fegelein, dem Chef der SS-Totenkopf-Reiterstandarte und späterem Schwager von Hitlers Geliebter Eva Braun.
Aus Briefen des im Kriegshandwerk gänzlich Unerfahrenen rekonstruiert Joachim Jahns das skrupulöse Leben eines Unmenschen, der versucht, menschlich zu bleiben. Erste Aufgabe von Konrad ist es, in Warschau Juden aus ihren Wohnungen zu vertreiben, um Quartier für SS-Offiziere zu machen. Im Gegensatz zu anderen aber requiriert Konrad nur verlassene Wohnungen. Auch den Befehl, Möbel zusammenzurauben, erfüllt er, ohne zu stehlen.
Dabei balanciert der SS-Mann, inzwischen Obersturmführer, auf dem schmalen Grat zwischen Selbstschutz und der Gefahr, als judenfreundlicher "Weichling" erkannt zu werden. Die Angst, an die Front versetzt zu werden, lässt ihn ungeahnte Talente in sich entdecken: Konrad macht sich mit Unterstützung Fegeleins zum obersten Manager der deutschen Betriebe, die Außenstellen im Ghetto gegründet haben und die Juden für sich arbeiten lassen. Ausbeutung, nicht Vernichtung ist da noch deutsche Politik. Franz Konrad baut sich in der Folge ein Imperium, das SS-Einheiten an der Front mit allerlei Kleinigkeiten: Seine Abteilung "Werterfassung" dient zwar letztlich auch der "Endlösung der Judenfrage". Ihr Chef aber setzt lange darauf, dass es auch dem Unmenschen schwer fällt, zu vernichten, was ihm nützt.
4 000 Juden beschäftigen Konrads Firmen, er selbst geriert sich als sozialer Unternehmer, richtet eine Großküche ein, und schafft es, beschlagnahmte Schmuggelware in dieser für "seine" Juden kochen zu lassen. Um seine Beschäftigten zu schützen, lässt er ihnen Ausweise drucken, die sie von den als "Umsiedlung" getarnten Transporten in die Vernichtungslager freistellen. Als er darum gebeten wird, holt er sogar Familienangehörige seiner Mitarbeiter vom Transport-Sammelplatz.
Konrad weiß von den Todesfabriken, doch er kann nur eins erreichen: Dass "seinen" Juden immer wieder Aufschub gewährt wird. Einige der konkurrierenden SS-Führer dulden das, andere gehen scharf gegen ihn vor. Als der SS-Gruppenführer Jürgen Stroop vom Himmler geschickt wird, um endgültig Schluss mit dem Ghetto zu machen, scheitert Franz Konrads Versuch, "in einer unmenschlichen Zeit menschlich zu bleiben", wie Jahns analysiert. Der Retter, der niemanden mehr retten kann, besorgt sich jetzt eine Kamera und dokumentiert das Grauen, die Besprechungen der Mörder, die Ortstermine des "Schlächters von Warschau", er fertigt Aufzeichnungen an und führt Tagebuch. Vor seinem Schicksal bewahrt ihn das nicht: 1951 sitzt Franz Konrad neben dem verhassten Jürgen Stroop auf der Anklagebank. Nach drei Tagen Prozess fällt das Todesurteil. Am 6. März 1952 wird der "Ghettokönig von Warschau" hingerichtet.